Freitag, 7. Januar 2011

Archivierter Adventskalender



„Sie folgen nicht ihrem Instinkt“, hatte der Priester gesagt. „Sie folgen dem Stern.“ Er hatte mit bedeutungsschwangerer Miene in den Himmel gezeigt. Aber egal, ob Instinkt oder Stern: Fakt war, sie waren gefährlich. Und viele, die ihnen begegnet waren, waren gestorben, ehe sie sich über die Existenz der drei zweitausend Jahre alten Zombies wundern konnten.


Hier geht's zu den Türchen 2 bis 24 (und zum Bonus-Türchen)


Die Zigarette hilft Daniel, ein wenig zu entspannen, während er die Dinge, die in der letzten Nacht passiert sind, Revue passieren lässt. Er steht rauchend in einem Stall, in dem Maria und Josef ein Plastikbaby hüten. Josef ist Daniel selbst. Er beobachtet aufmerksam, ob sich im Wald etwas tut. Ob sich zwischen den Bäumen etwas bewegt.
Doch Daniel weiß, dass er sie zuerst hören würde, wenn sie kommen. Dass ihr hohles Stöhnen über die Lichtung hallen würde.
Daniel tastet vorsichtig nach dem Gewehr, das er unter dem braunen Wollmantel versteckt hat, der zu seinem Josef-Kostüm gehört. Wie absurd es ist, dass er im Spätsommer mit seiner Kommilitonin Anna im Wald steht und die Weihnachtsgeschichte in ihrer klischeehaftesten Form (plus Plastik-Jesus) nachstellt.
Doch was in den letzten zehn Stunden passiert ist, hat Daniel jeglichen Sinn für Humor geraubt. Anna, die Jungfrau Maria, bricht plötzlich in Tränen aus. „Ich habe Angst, ich habe so schreckliche Angst!“ weint sie. 
„Ich auch“, flüstert Daniel. „Doch du musst deine Rolle spielen. Nur so werden wir sie los…“
Daniel drückt seine Zigarette aus. Kaspar, Melchior und Balthasar, diese drei untoten Hurensöhne, sollen nur kommen. Dann werden sie mit Gewalt zurück ins Morgenland geschossen…
Am frühen Abend war der Kölner Dom noch von einer neugierigen Spannung erfüllt gewesen. Schaulustige saßen in den Bänken des gotischen Kirchenschiffs. Steinerne Heilige warfen ihnen strafende oder liebevolle Blicke zu – je nach der Rolle, die sie in der Bibel spielten.
Doch niemand achtete auf sie. Alle starrten tuschelnd zum Dreikönigenschrein, von dem man ausnahmsweise das Panzerglas weggenommen hatte. Stattdessen wurde er von Polizisten beschützt, die eine unsichtbare Linie zwischen Menge und Schrein bewachten. Der Kardinal war da und schüttelte für die Fotografen die Hand des Kölner Uni-Dekans.
Daniel hatte feuchte Hände vor Aufregung. Er stand nur wenige Meter von den Würdenträgern entfernt. Doch auch seine Aufmerksamkeit galt einzig und allein dem dreistöckigen Sarkophag, der mit 74 vergoldeten Figuren und tausend Edelsteinen das Herz des Kölner Doms war. Ein strahlendes Erbe aus dem Mittelalter, das in seiner Pracht die unantastbare Macht der katholischen Kirche darstellen sollte. 
Und der heute geöffnet werden sollte, weil diese Macht bröckelte und die Kirche – so vermutete Daniel – dringend auf medienwirksame PR-Aktionen angewiesen war. Der Kardinal hatte eine für ihn ungewöhnliche Rede gehalten, in der es darum ging, dass Kirche und Wissenschaft endlich näher zusammenrücken müssen. „Wir treffen uns heute Abend auf einer Kreuzung der Wahrheitsfindung“, hatte er gesagt.
Doch die Religion war Daniel egal. Genau wie seine Archäologie-Kommilitonen war er einzig und allein stolz darauf, diesem spannenden Projekt beizuwohnen. Seit 1864 war der Schrein nicht mehr geöffnet worden. Die Wissenschaft hatte seitdem Erkenntnisse gewonnen und Methoden entwickelt, die endgültig aufdecken sollten, was wirklich darin aufbewahrt wurde.
Die Gebeine der Heiligen Drei Könige? So ein Unsinn! Nicht nur Daniel, auch seine Mitstudenten waren sich sicher, dass die nur Comicfiguren aus einem biblischen Märchen waren.
Der Kardinal trat vom Dekan weg und klopfte Daniels Studienleiter Professor Siegel auf die Schulter. Diese kumpelhafte Geste mochte zu dem streng wirkenden Mann und seinem ehrwürdigen rot-schwarzen Talar überhaupt nicht passen. Daniel wusste, dass sein Professor noch hundertmal nervöser war als er. Schließlich würde er die Untersuchungen leiten und vielleicht in die Geschichte der Archäologie eingehen.
Daniels Kommilitonin Anna nahm plötzlich seine Hand. Mit großen Augen starrte sie Daniel an. Eine kindliche Neugier stand in ihrem Gesicht, die er noch nie bei ihr gesehen hatte. „Es geht los“, flüsterte sie. „Ja“, antwortete Daniel und zuckte kurz zusammen, als zwei Männer Bohrer an dem Schrein ansetzten.
Die Blitzlichter der Fotografen zuckten, die Bohrer brüllten laut. Es wirkte, als würde ein Gewitter um den Sarg toben, das Gott selbst ausgelöst hat. Weil er nicht einverstanden war mit dem, was hier gerade geschah…
Ein Schauer lief durch Daniels Glieder, als ein Gabelstapler vorsichtig unter die Öffnung des Sargdeckels gefahren wurde und ihn langsam… Genau im spannendsten Moment wurden alle Blicke abgelenkt. Statt auf den Schrein starrten plötzlich alle auf ein gleißendes Licht, das durch das oberste Kirchenfenster genau auf den Sarg schien.
Wer keine Sonnenbrille im Haar hatte, die er schnell auf die Nase ziehen konnte, musste sich die Hände vor die Augen halten. Das Licht reflektierte gleißend hell im Gold des Schreins. Daniel musste an die Szene aus „Indiana Jones“ denken, in der die Nazis die Bundeslande öffnen. Es ist falsch, was wir tun. Dachte er unwillkürlich.
Niemand sah, wie der Gabelstapler den Deckel anhob. Doch alle hörten den Kardinal, dessen Stimme über dem hellen Licht wie die eines Engels klang. Eines sehr wütenden Engels: „So sehet, der Morgenstern ist gekommen!“ polterte er theatralisch. „Und er wird jene zu neuem Leben erwecken, an die ihr nicht geglaubt habt! Auf dass der Zorn des Herrn durch sie auf euch niederkomme!“
Daniel spürte, wie sich Annas Fingernägel in sein Fleisch bohrten. „Was passiert hier?“ fragte sie mit zitternder Stimme. Die nackte Angst hatte die kindliche Neugier aus ihrem Gesicht vertrieben. Daniel wollte sagen, dass er keine Ahnung hat, doch in dem Moment erübrigte sich jede Antwort, weil das Licht verschwand.
Der Dom erschien Daniel dunkler als jemals zuvor. Der Dreikönigenschrein nahm nur langsam wieder Gestalt vor seinen Augen an. Daniel sah, wie sich Professor Siegel neugierig darüber beugte. Dann hörte er Anna unsagbar laut schreien. Eine schwarze Hand schnellte aus dem goldenen Schrein!
Das muss Kaspar sein. Dachte Daniel. Kaspar ist doch der Schwarze, oder? Er vergaß kurz, dass er eigentlich angenommen hatte, in dem Schrein alles zu finden außer den Heiligen Drei Königen. Daniels Professor konnte nicht schreien, als die schwarze Hand fest seine Kehle zerdrückte. Der Kopf eines schwarzen Mannes (eher der halbe Kopf, denn unter einer prächtigen Krone war das offene Gehirn zu sehen) kam zum Vorschein. Der König – Der ZOMBIE-König, dachte Daniel – rammte seine Zähne in Siegels Gesicht und riss ihm die Nase ab.
So gierig, als hätte er seit 2000 Jahren darauf gewartet, endlich wieder etwas zu Fressen zu bekommen, vergrub er sich schmatzend im Gesicht seines Opfers. Blut spritzte auf den Sarg. Das dunkle Rot passte absurderweise zum Glanz des Blattgoldes.
Überall im Dom wurde geschrien. Anstatt etwas zu unternehmen, starrten die Polizisten fassungslos auf das Schauspiel im Altarraum. Genau wie Daniel. Er hörte die Schreie um sich herum nicht. So fasziniert war er von dem, was sich vor seinen Augen abspielte.
Neben dem schwarzen König erhob sich ein zweiter mit einem blauen löchrigen Mantel. Dieser König hatte langes graues Haar unter seiner Krone, das einen skelettartigen Schädel umhüllte. In der rechten Augenhöhle befand sich eine klumpige eitrige Masse, die wohl mal ein Augapfel gewesen war. Der König hatte keine Nase und keinen Unterkiefer. Aber spitze Zähne im Oberkiefer, die er unmittelbar nach seinem Erwachen lustvoll in den Oberschenkel des Professors rammte. Dessen Gesicht war nur noch ein Brei, den der schwarze König genussvoll schleckte.
Ist das jetzt Melchior oder Balthasar? Fragte sich Daniel und entschied, dass der Dritte im Bunde eher wie ein Melchior aussah. Der hatte noch einen langen Bart, aber keine Krone. Ab der Stirn war sein Schädel zackig gesplittert, so dass er wie eine angewachsene Krone aussah. Der König stieß mit einem lang gezogenen Stöhnen den schwarzen König weg, um sich einen saftigen Happen Menschenfleisch aus dem Gesicht von Professor Siegel zu reißen. Wie ein Kind, dem man das Spielzeug geklaut hatte, gab der Schwarze dem anderen einen Schubs zurück.
Anna zerrte an Daniels Arm. „Wir müssen hier weg!“
Die drei Könige erhoben sich schwerfällig. Sie wirkten wie die Steinfiguren, die überall im Dom Wache hielten. In ihrem Zustand eher wie die Steinfiguren kurz nach der Kölner Bombennacht. Dachte Daniel, dann zog Anna ihn in die Menge hinein, die aufgeregt zum Ausgang stob.
Daniel bekam noch mit, dass die Polizisten begonnen hatten, auf die Untoten zu schießen. Doch er sah nicht, ob die Schüsse irgendeinen Effekt erzielten. Er musste sich ganz darauf konzentrieren, Annas Hand festzuhalten. Das war nicht  einfach in der Menge, die sich so sehr verdichtete wie das Publikum bei einem Rockkonzert. Schnell spürte Daniel nur noch Ellbogen, die sich schmerzhaft in seinen Körper rammten. Viele versuchten, sich an ihm hochzustemmen, um irgendwie über die Köpfe der anderen zum Eingangsportal zu kommen.
Irgendwo meinte Daniel, das hohle Stöhnen der Könige zu hören, doch im Gekreisch konnte man sich manche Geräusche einbilden. So unsakral wie jetzt war die Stimmung im Dom nicht mehr gewesen, seit 2005 eine Horde Weltjugendtagsbesucher mit hellblauen Rucksäcken hinein gelassen worden war.
Spontan entschied Daniel, Anna aus der Menge zu ziehen und zum Schrein zurückzulaufen.
„Was tust du?“
„Das ist wie beim Stierlauf von Pamplona hier“, antwortete Daniel. „Da kommen wir so schnell nicht raus!“
„Gut erkannt, Junge“, sagte plötzlich ein Priester, der Daniel und Anna an den Armen packte. „Durch die Sakristei! Weniger spektakulär, aber sicherer!“
Daniel blickte durch das Fenster auf eine in Anarchie ausgebrochene Innenstadt. Überall lagen entstellte Leichen auf dem Asphalt, so als hätten sich hunderte Menschen über das Internet zum blutigsten Flashmob aller Zeiten verabredet. Wer nicht tot war, wankte schreiend und vor sich hin starrend durch die Straßen. Kaum einer war lebend aus dem Dom gekommen.
Doch den drei Königen hatte man nichts anhaben können. Niemand hatte sie stoppen können, als sie in die Stadt wankten und jeden in eine Hackfleichlieferung für die Kannibalenmetzgerei verwandelten, der sich ihnen in den Weg stellte. Diejenigen, die nicht tot oder verrückt geworden waren, plünderten die Geschäfte. Daniel beobachtete einen Mann, der mühsam ein paar Leichen auf der Hohe Straße zur Seite schaffte, um einen riesigen HD-Fernseher aus dem Mediamarkt voran schieben zu können.
„Da laufen die Ungläubigen und stürzen sich auf das, was ihnen mehr bedeutet hat als unser Gott“, murmelte der Priester und trat neben Daniel ans Fenster. Anna lachte humorlos. Während sie sich angewidert vom Fenster abgewendete, starrte Daniel weiter fasziniert hinaus. Er beobachtete eine Frau im Abendkleid, die die Taschen der Toten nach Wertsachen abklopfte. Wenn sie etwas fand, sah sie sich verstohlen um, bevor sie es einsteckte.
„Als ob die Menschen nicht so gewesen wären, als sie noch an Gott glauben mussten“, entgegnete Anna dem Priester.
„Da liegt das Problem. Der Mensch soll aus freien Stücken Gottes Liebe annehmen. Wenn er gezwungen wird, kann das Herz trotzdem noch ungläubig bleiben.“
Daniel fuhr herum. „Sie meinen also, wir wären verantwortlich dafür, was da draußen passiert, weil wir nicht glauben, dass da oben ein bärtiger alter Mann sitzt?“
Der Priester seufzte. Sein Zimmer war klein, aber völlig mit Tand überfrachtet. Unzählige Rosenkränze und Kruzifixe hingen konzeptlos neben- und übereinander, so dass kaum ein Millimeter an den grauen Steinwänden mehr frei war. Es sah so aus wie in einem Souvenirladen vor den Toren des Vatikans. „Für eine theologische Diskussion, wer oder was Gott ist, haben wir leider keine Zeit“, sagte der Priester. „Aber Fakt ist, dass die drei Könige wieder auferstanden sind, weil sie durch Unglaube genährt wurden.“ 
Daniel wollte unterbrechen, doch der Priester hob plötzlich seine Stimme: „Ihr glaubt doch immer an das, was ihr sehen könnt. Ihr habt gesehen, wie drei Untote aus einem Sarg gekommen sind, in dem ihr nur Knochen von irgendwelchen Tieren vermutet habt. Und ihr habt gesehen, wie sie jeden auf ihrem Weg ausgeschaltet haben. Nicht einmal Pistolenkugeln konnten sie aufhalten.“ Daniel und Anna schwiegen. Als überzeugte Agnostiker hatten sie dem tatsächlich nichts entgegenzusetzen – halte alles für möglich, aber glaube nur, was du siehst.
„Okay“, antwortete Anna schließlich. „Sie scheinen zu wissen, was Sache ist.“
Der Priester nickte bedeutungsvoll, so als wäre er unglaublich stolz, endlich einmal recht zu haben.
„Also“, sagte Daniel. „Was ist Sache?“
Daniel hustete, als ihm eine dichte Weihrauchwolke kurz den Atem nahm. Anna wollte ein Fenster öffnen, doch ein Blick von Daniel genügte, um sie davon abzubringen. Ist es wirklich klug, das Fenster zu einer Welt voller Leichen zu öffnen?
Der Priester hatte eine Schale mit Weihrauch angezündet. Die Schwaden, die um sein Gesicht tanzten, schienen ihm nichts auszumachen – im Gegenteil, er atmete immer wieder tief davon ein, während er erzählte, dass Glaube und Unglaube die gleiche Macht haben. „Wenn eines von beiden stark genug ist, kann es sich materialisieren. Der pure reine Glaube ist etwa auf die Erde gekommen, als…“
„…Jesus geboren wurde“, ergänzte Anna, eine gewisse Süffisanz in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
Der Priester nahm sie nicht zur Kenntnis: „…als Jesus Christus durch eine Jungfrau geboren wurde. Keine weltliche Geburt, eine Geburt möglich gemacht durch Glaube und Hoffnung. Der Morgenstern hat damals geschienen – und er scheint auch heute, hier über dieser Stadt.“
Der Priester griff in das Weihrauch-Schälchen und streute ein paar Krümel auf die Tischplatte. Er öffnete ein Säcken und schüttete winzige goldene Splitter heraus. Sorgfältig verrieb er das Gold in dem Weihrauch, während er fortfuhr: „Wir leben in einer hoffnungslosen Zeit voller Ungläubiger. Diese Macht hat sich der Kardinal heute Abend zu Nutze gemacht. Er ließ den Schrein öffnen und den Unglauben Gestalt annehmen – in den drei Königen.“
„Aber warum?“ fragte Daniel.
Der Priester stand auf und ging zu einem kleinen Schränkchen neben seinem Bett. „Nicht alle in der Kirche haben gute Absichten“, sagte er, während er eine Schatulle heraus nahm. Er warf einen leicht belustigten Blick, der gar nicht zu ihm passen wollte, zu den beiden Studenten. „Aber das wisst ihr ja bereits.“
Er ging zu seinem Platz zurück. „Im Priesterseminar haben wir immer gesagt, dass es bei Kirchen-Vertretern wie beim Spargel ist: Je roter, desto weniger schmackhaft. Der Kardinal wollte seine Macht demonstrieren, ein Exempel statuieren. Und vielleicht hat er recht – vielleicht werden die Menschen nach dieser Nacht wieder glauben können.“
„Die Menschen mit Gewalt zu Gott bringen, das kennt man ja von euch“, sagte Daniel nicht ohne Zorn.
„Wie dem auch sei“, antwortete der Priester unbeeindruckt. „Sicherer ist es, wenn wir das Exempel rückgängig machen.“ Er nahm zwei kleine goldbraune Klumpen aus der Schatulle, die voll damit war. Die Klumpen rollte er sorgfältig in dem Weihrauch-Gold-Gemisch. „Die Drei Könige sind nur ein Schatten ihrer selbst – die dämonischen Zwillinge ihrer heiligen Existenzen. Sie  sind Zombies, die ihren Heiland suchen, um ihn auf der Welt willkommen zu heißen. So wie vor etwa 2000 Jahren.“
„Sie folgen also ihrem Instinkt?“ fragte Daniel. Der Priester sah ihn eindringlich an. Er zeigte aus dem Fenster in den Himmel, wo der Morgenstern hell leuchtete. „Sie folgen nicht ihrem Instinkt. Sie folgen dem Stern. So wie damals.“ Er legte die Kugel, die er geformt hatte, in seine Handfläche und hielt sie Daniel und Anna hin. „Und nur das hier kann sie stoppen.“
„Weihrauch, Myrrhe und Gold“, sagte Daniel. „Das Zeug, das sie damals als Geschenke zur Krippe gebracht haben.“
Der Priester grinste breit. Drei Goldzähne blitzten in seinem Mund auf. „Ich hoffe für euch, dass ihr anfangt, zu glauben.“
Jetzt im Wald, wo er seit über einer Stunde auf die Ankunft der Weisen aus dem Morgenland wartet, überwiegt der Zweifel. War das wirklich wirklich? Oder erlaubt sich der Priester, der sich bewaffnet hinter dem Stall versteckt hält, einen höchst aufwändig gestalteten Scherz mit ihnen?
An die Gewehre heranzukommen war nicht sehr schwierig gewesen. In einer Welt, in der alle panisch herumlaufen oder tot sind, wird der Keller des Polizeihauptreviers zu einem Selbstbedienungsladen. Der Priester hatte die Gewehre mit seiner Spezialmunition geladen – aufgesägte Kugeln, in die er mit einer Pinzette mehrere Weihrauch-Myrrhe-Gold-Klumpen geschoben hatte.
Der Priester war sich sicher gewesen, dass der Stern schon bald über der Lichtung stehen würde. Notdürftig hatten sie die Krippe aus Ästen und Zweigen gebaut. Und jetzt stehen sie hier in Kostümen aus einem Karnevalsgeschäft und mit einem Plastik-Jesus aus der zerbrochenen Schaufensterscheibe des Kaufhofs.
Und ehe sich Daniel noch einmal fragen kann, ob das ganze Arrangement nicht völlig beknackt ist, wird die gesamte Lichtung plötzlich in ein weißes Licht getaucht. Daniel bekommt eine Gänsehaut, als er den Stern betrachtet, der so hell wie eine nächtliche Sonne scheint. Alle Geräusche im Wald verstummen. Die friedliche Atmosphäre kann von nichts gestört werden. Außer von dem Geräusch, auf das Daniel wartet. Instinktiv legt sich seine Hand um das Gewehr unter dem Kostüm.
Anna japst kurz – ein unterdrückter Schrei. Und dann ist es noch klarer zu hören: Das hohle Stöhnen. Äste knacken. Daniel kann ein leichtes Zittern nicht unterdrücken. Er schließt die Faust fester um das Gewehr, um ruhig zu werden. Kneift die Augen zusammen, um Silhouetten auszumachen. Doch er sieht keine.
Anna ist kalkweiß unter ihrem blauen Umhang. Die Blässe passt perfekt zu ihrer Darstellung der Mutter Gottes, ebenso wie die weit geöffneten Augen, die ihr etwas Kindliches geben.
Und dann stehen sie plötzlich im Licht.
Der Stern scheint so hell, dass die drei Könige keine Schatten werfen. Fast könnte man annehmen, sie seien Engel, die auf die Lichtung gebeamt wurden. Doch ihr schlurfender Schritt hat nichts Engelhaftes. Ebenso wenig wie das Blut von hunderten Menschen, das ihnen aus den zerfallenen Gesichtern fließt und ihre zerrissenen Mäntel durchtränkt.
Daniel überprüft heimlich, ob er das Gewehr schnell genug unter seinem Kostüm hervorziehen kann, wenn sie nah genug sind. Er ertastet, ob die Waffe entsichert ist. Sie ist es, und die Zombies sind fast da. Jetzt kann Daniel die Details erkennen: Kann sehen, dass die Schädel der Könige beinahe nur Skelettköpfe sind, die mit Fleischfetzen behangen wurden. Und auf denen absurderweise noch die Kronen thronen.
Wie kann es sein, dass sie auf dem Weg noch nicht runtergefallen sind? Fragt sich Daniel und ist überrascht, wie sich seine Angst plötzlich in ein anderes Gefühl verwandelt: Trotz ihrer Hässlichkeit wirken die Könige erhaben. „Sie sehen wirklich aus wie Heilige“, flüstert Daniel.
„Was sagst du da?“ fragt Anna mit zitternder Stimme.
Doch Daniel antwortet ihr nicht. Er sieht sich um, sieht die Krippe und die Mutter mit dem Kind, die beide wunderschön im Licht des Morgensterns aussehen. Es wirkt weihnachtlich. So wie damals, als Daniel fünf Jahre alt und völlig hingerissen von einem Krippenspiel im Kindergarten gewesen war. Nur, dass es heute kein Spiel ist.
Die drei Könige sind jetzt nah genug heran gekommen, um problemlos auf sie schießen zu können. Doch statt das Gewehr zu ziehen, bekreuzigt sich Daniel – zum ersten Mal, seit er mit zwölf Jahren in einer Messe war. Die Könige bleiben mit respektvollem Abstand zur Krippe stehen. Kaspar schaut zu Melchior, als wollte er etwas fragen. Melchior dreht seinen Kopf zu Balthasar. Sehr schwerfällig, weil der Schädel vom Hals fallen würde, würde er ruckartig bewegt werden. Balthasar senkt sein halbes Haupt. Die anderen tun es ihm gleich. Die drei Zombies sehen sich am Ziel. Ehrfürchtig verneigen sie sich vor dem Plastik-Jesus, den Anna krampfhaft umklammert.
Es sieht wunderschön aus. Denkt Daniel. Denn es ist wahrhaftig... 
Der Modergeruch, den die Könige verströmen, erfüllt die ganze Lichtung und steigt in Daniels Nase. Doch er nimmt ihn kaum war. Lässt sich nur von Erscheinung erfüllen. Die Zombies strahlen für ihn weder Tod noch Gefahr aus, sie scheinen zu sagen: Die Geschichte ist wahr.
Ein Knall! Ein heftiger Schmerz fährt durch Daniels Körper. Doch er wurde nicht etwa von einer Kugel getroffen. Ihn erschüttert es, dass das friedvolle Bild vor ihm zerstört wurde. Das bisschen Kopf von Balthasar fliegt in tausend Fetzen – Blut spritzt in Annas Gesicht und auf den Plastik-Jesus, der zu Boden fällt. Statt ihm hält Anna ihr Gewehr in den Händen.
„Gut gemacht, Mädchen!“ Der Priester tritt hinter dem Stall hervor, während Balthasars Körper zusammensackt. Es ist vorbei mit dem Frieden. Das hohle Stöhnen der übrig gebliebenen Zombie-Könige vibriert durch die Luft. Der Priester schießt! Kaspar fällt zu Boden, als ihn die Kugel an der Schulter trifft. „Ihr müsst die Köpfe treffen! Die Köpfe!“ ruft der Priester. Melchior hat sich ihm bedrohlich genähert. Der Priester lädt sein Gewehr durch, doch Daniel zieht seines immer noch nicht hervor. Erst als Melchior seine morschen Zähne in den Hals des Priesters rammt, besinnt er sich seiner Aufgabe.
„Erschieß ihn! Erschie…“ Ein Schwall Blut schießt aus dem Mund des Priesters. Gierig macht sich Melchior über ihn her. Und Daniel hat das Gefühl, sich in Zeitlupe zu bewegen, als er das Gewehr anlegt, auf Melchiors Kopf zielt und abdrückt. Auch diese Spezialkugel des Priesters zeigt ihre Wirkung: Weihrauch, Myrrhe und Gold reißen den Schädel des zweiten Königs auseinander. Daniel spürt, wie feine Knochensplitter um sein Gesicht sausen, wie warmes Blut auf seine Haut spritzt.
Vom Körper des Priesters ist kaum noch etwas übrig. Dort, wo sein Torso liegt, sieht es aus wie nach der größten Spaghetti-Schlacht aller Zeiten. Der Kopf des Priesters liegt wenige Meter neben der Sauerei. Die Augen sind verdreht, Blut sickert aus dem Schädel. Die blau angelaufene Zunge hängt schwer aus dem Mund.
Der letze König – Kaspar – liegt immer noch auf dem Boden und versucht vergebens, seinen schwachen Körper aufzurichten. Er krallt sich im Gras fest und zieht sich langsam vorwärts. „Hey, hier drüben, du Penner!“ schreit Anna. Ruckartig richtet Kaspar seinen Kopf auf. Doch er weiß nicht, wo er hinschauen soll, bis Anna gegen den Plastik-Jesus tritt. Die Puppe fliegt in Daniels Richtung. 
Kaspar sieht ihn und zieht sich vorwärts. Seine Augen funkeln gierig – er will das Christus-Kind erreichen, das Kind, wegen dem er sich auf den Weg gemacht hat. Er merkt nicht, wie auf ihn angesetzt wird. Daniel hat beinahe Skrupel, den letzten König zu erschießen. Den König, der Teil dieser wundervollen Erscheinung war, die er erleben durfte. Doch er drückt ab. Die Kugel fliegt knapp an Kaspars Schädel vorbei. Der Zombie merkt gar nicht, dass auf ihn geschossen wurde, so fixiert ist er auf die Plastikpuppe. Und Daniel fühlt Erleichterung, nicht getroffen zu haben. Kaspar zieht sich voran.
„Schieß noch einmal!“ brüllt Anna. Ihre Stimme ist schrill und durchdringend vor Aufregung.
„Ich habe keine Munition mehr!“
Anna schaut Daniel entsetzt an. Durch den Blutschleier, der ihr Gesicht bedeckt, wirkt sie wie ein Geistermädchen aus einem Spukfilm. „Ich auch nicht.“
Anna rennt instinktiv zum Kopf des Priesters. Sie klemmt ihn sich zwischen die Knie und greift an der dick geschwollenen Zunge vorbei tief in den Mund des Schädels. Die Zähne des Priesters reißen Anna tiefe Wunden in die Handinnenfläche, während sie an einem Zahn zerrt.
Kaspar ist vielleicht noch drei Meter vom Plastikjesus entfernt. Er greift wieder ins Gras und zieht sich ein Stück vorwärts.
"Was tust du da?" fragt Daniel. Wie Anna im Mund des Priesters hantiert, wirkt es, als würde sie verzweifelt versuchen, einen zu fest sitzenden Korken aus einer Flassche zu ziehen.
"Ich reiße ihm den Goldzahn heraus", stöhnt Anna. "Und daraus machen wir Munition."
"Und wo willst du Myrrhe und Weihrauch herbekommen?"
In Annas Gesicht steht aggressivste Entschlossenheit, als sie Daniel anschaut. "Dann versuch etwas auf der Lichtung zu finden. Schließlich hast du das Zeug ja verschossen."
"Das ist doch Unsinn."
Der schwarze König streckt seine Hand nach dem Jesuskind aus. Das Stöhnen tief aus seiner Kehler klingt wie eine dröhnende Vuvuzela aus der Hölle.
"Hast du eine bessere Idee?"
Daniel stellt sich kerzengerade auf, als wäre er ein Chorknabe, der vergessen hat, sich die Haare zu kämmen. Er atmet einmal tief durch. Dann singt er: "Stille Nacht, heilige Nacht, alles schläft, Einsam wacht."
Kaspar spreizt seine Finger. Daniel versucht so laut zu singen, dass er das Stöhnen des Zombies übertönt. Anna sieht ihren Kommilitonen verwirrt an. "Was tust du da?"
"Sie sind aus Unglaube erschaffen worden, erinnerst du dich? Wir müssen glauben, dann können wir ihn vernichten."
"Glauben? Ich kann nicht..."
"Was nicht?" Jetzt klingt Daniel aggressiv. "Du kannst nicht an die Weihnachtsgeschichte glauben? Ich würde sagen, wir haben in dieser Nacht den ultimativen Beweis überlebt, dass sie wahr sein muss. Also sing jetzt! Das ist immer noch besser, als einem Toten im Mund rumzupuhlen."
"Nur das traute hochheilige Paar..." Tatsächlich steigt Anna bei "hocheilige" in den Gesang ein. In ihren Kostümen und nach der Zombie-Schlacht sehen Daniel und sie wie das blutigste hochheilige Paar aller Zeiten aus.
"Holder Knabe im lockigen Haar..."
Kaspar berührt den Plastikjesus!
"Schlaf in himmlischer Ruhe..." Anna schaut zu Daniel. Ihr Blick sagt Der Quatsch mit dem Gesang klappt nicht.
Doch Daniel beachtet sie nicht. Der König zieht das Christuskind zu sich heran, das plötzlich, nachdem Daniel und Anna "Schlahaf in himmlischer Ruh'..."   gesungen haben zu glühen beginnt.
Die beiden Archäologiestundenten halten sich reflexartig die Hände vor die Augen, als die Lichtung so hell erstrahlt, wie man es sich bei der Landung eines Ufos vorstellt.
Das Licht verschwindet von einer Sekunde auf die andere. Nachdem sich Annas Augen wieder an die Dunkelheit gewöhnt haben, geht sie zu den drei Kronen, die einsam auf der Lichtung liegen. Die toten Könige und Kaspar sind verschwunden. Anna hebt Balthasars Krone auf. "Wenigstens sind archäologisch wertvolle Funde übriggeblieben", sagt sie bitter.
Daniel hebt den Plastikjesus auf, der zu glühen aufgehört hat. "Nein", sagt er. "Es ist so viel mehr übrig geblieben."
Er blickt in den sternenklaren Himmel. "Ich hätte nicht gedacht, das jemals im Sommer zu sagen: Frohe Weihnacht und Frieden auf Erden."
Er greift Annas Hand. Und eine Wärme durchströmt seinen Körper, die sich nach Weihnachten anfühlt.
Totenstille im Kirchenschiff. Leichenberge. Sie werden von den erstarrten Steinnfiguren bewacht. Dick verkrustetes Blut auf dem Boden. Der Dreikönigenschrein liegt auf der Seite und hat den Gabelstapler unter sich begraben.
Eine Hand schießt aus einem Leichenberg!
Ein Ring steckt an der Hand.
Der Ring des Kardinals...

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen