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TÜRCHEN 2
Ruhe empfing Lotte in ihrer Studentenwohnung. Keine weihnachtliche Stille. Zum Glück nicht! In der Wohnung war nichts zu finden, was in irgendeiner Art und Weise dem Kram entsprach, den Lotte den letzten Monat lang auf dem Weihnachtsmarkt am Dom verkauft hatte. Gute Bezahlung, stressige Arbeit – vor allem in den letzten Tagen. Heute an Heiligabend war der Weihnachtsmarkt geschlossen geblieben. Lotte hatte Lisa, der Schmuckverkäuferin, die auf dem Weihnachtsmarkt den Hauptumsatz des Jahres machte, noch beim Transport von ein paar Kisten geholfen. Sie legte das kleine Geschenk, das sie von Lisa als Dankeschön bekommen hatte, auf dem Schlüsselbrett ab, während sie sich die Winterstiefel, Schal und Handschuhe auszog. Als sie ihre Mütze vom Kopf zog, knisterten Lottes schulterlangen brünetten Haare und blieben statisch aufgeladen stehen. Lotte betrachtete sich durch ihre großen Brillengläser amüsiert im Spiegel und dachte, dass sie wie eine der Frauen in der L‘Oréal-Werbung aussah, die die Schere zerbrechen, weil sie die Frisur nicht gebändigt bekommen.
Lotte ließ die Haare aufrecht stehen und wickelte Lisas Geschenk aus dem Recycling-Papier. Sie lächelte breit, als sie in einer Schatulle ein Paar Ohrringe mit roten Steinchen in Goldfassung fand. Genau die hatte sie sich in den letzten Wochen immer mal wieder heimlich an dir Ohrläppchen gehalten, wenn auf dem Weihnachtsmarkt gerade niemand hinsah. Eines Tages waren sie nicht mehr da gewesen und Lotte hatte angenommen, Lisa hätte sie verkauft. Sie musste gesehen haben, wie begeistert Lotte von ihnen gewesen war.
Sie nestelte die Ringe in ihre Ohrlöcher, richtete sich nun doch die zerzausten Haare und erklärte ihrem Spiegelbild: „Hörst du, wer gerade redet? Ich! Und ich bin die einzige, die hier reden kann! Und ab jetzt schweige ich, denn dann ist endlich Ruhe!“
Kaum hatte sie das ausgesprochen, fuhr ein freudiges Kribbeln durch Lottes Magengrube. Sie würde sich Nudeln kochen, Rotwein einschenken und den gesamten Heiligabend damit verbringen, mindestens eine halbe Staffel von „Game of Thrones“ anzuschauen. Außer ein paar Schneeflocken hatte die Serie nichts, was an Weihnachten erinnerte. Und die Schneeflocken, die zu sehen waren, rieselten nicht leise sondern wehten John Snow um die rot gefrorene Nase, während er versuchte, einen Weg durch eisige Kälte zu finden.
Anja hatte Lotte ehrlich bedauert, als sie ihr von ihren Plänen für den Heiligen Abend erzählt hatte. Sie hatte ihr sogar angeboten, mit zu ihrer Familie nach Bayern zu kommen. „Dann habe ich wenigstens auch im Zug Gesellschaft. Von Köln nach München fährt man fünf Stunden! Das halte ich alleine nur durch, wenn ich heimlich auf der Toilette rauchen kann!“
Anja hätte niemals einen ganzen Abend lang alleine bleiben können. Und wie jemand an Weihnachten allein sein konnte, war ihr vollkommen unbegreiflich. Lotte und ihre Mitbewohnerin kannten sich seit einem halben Jahr und hatten nicht viel mehr gemeinsam, als dass sie sich einig waren, dass das Serienfinale von „Dexter“ nicht wirklich toll war. Lotte studierte Physik (und obwohl sie erst im ersten Semester war, betrachtete sie es als definitiv bewiesen, dass niemand durch Wände gehen konnte) und Anja Psychologie (wobei Lotte insgeheim das Vorurteil hatte, dass die meisten Psychologie-Studentinnen irgend etwas auf Grundschullehramt studieren würden, würde ihnen das nicht wie eine Erniedrigung vorkommen). Lotte redete etwa drei Sätze in fünf Minuten, Anja redete 50 Sätze in einer Minute und wenn sie gekifft hatte die doppelte Zahl. Lotte kiffte nicht. Und wenn sie kiffen würde, würde sie davon mit Sicherheit weniger und nicht mehr reden. Anja hörte alles, was ihr von dem Algorithmus auf Spotify empfohlen wurde, Lotte hörte Vinyl-Platten von Bands, die selbst auf Spotify schwer zu finden waren. Und Anja hatte eine Familie, zu der sie an Weihnachten fahren konnte (musste, dachte Lotte bedauernd), während Lotte alleine bleiben durfte (musste, dachte Anja bedauernd).
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