Montag, 27. Januar 2014

Spontane Kritik zu "Blau ist eine warme Farbe"


Ich hab gestern endlich den umstrittenen Cannes-Gewinner "Blau ist eine warme Farbe" nachgeholt und wurde um eine spontane Kritik im Facebook-Chat gebeten, die dann so lang wurde, dass ich sie einfach (in redigierter Form) hier veröffentliche:

"Blau ist eine warme Farbe" erzählt eine wunderschöne Liebesgeschichte zwischen den jungen Frauen Adèle (Adèle Exarchopoulos) und Emma (Léa Seydoux). Dabei handelt es sich nicht um eine Geschichte über das Lesbisch-Sein sondern um eine sehr universelle Auseinandersetzung mit der Liebe an sich: Mit ihren Mysterien, ihren Abgründen und ihrer Sinnlichkeit. Beide Hauptfiguren sind fantastisch ausgearbeitet, die Dialoge sind toll geschrieben und Regisseur Abdellatif Kechiche gibt den Emotionen so viel Raum, dass sie sich aus der Leinwand heraus entfalten und die Zuschauer verzücken oder ihnen ernsthaft wehtun. In seinen besten Momenten schafft "Blau ist eine warme Farbe" wahre Kinomagie und ist zurecht mit der Goldenen Palme ausgezeichnet worden.

Auch die Kamera war toll. Der Film ist recht konsequent ins Close-Ups erzählt. Das ist zwar eklig, wenn man Leuten beim Spaghetti-Zerkauen in Hochauflösung zusehen muss, sorgt aber dafür, dass man sehr intensiv in den Film und die Gefühlswelt von Adèle gesaugt wird, die man ihr aus dem Gesicht ablesen kann. Wenn ab und an in eine Halbtotale gesprungen wird (Totalen gibt es eigentlich nie), hat der Zuschauer das Gefühl, mit Adèle eine außerkörperliche Erfahrung zu erleben. So ist der Film naturalistisch und magisch zugleich. Eine großartige Leistung

Aber muss der Film wirklich 180 Minuten lang sein? Offensichtlich braucht er viel Erzählzeit, damit sich die Emotionen entfalten können. Gleichzeitig werden aber sämtliche Plot-Twists, die für große Konflikte sorgen könnten, tapfer von der Story ignoriert. Kechiche wollte offensichtlich, dass der Zuschauer so etwas wie "eine Story" vergisst und sich ganz der Emotion und dem gefühlten Moment hingibt. Sind 180 Minuten dafür nötig? Ìch weiß es nicht. Ich weiß auch nicht, ob die sehr expliziten und ausschweifenden Sexszenen, die wohl (Lars von Trier hat es ja oft genug mit seinen Filmen vorgemacht) für Aufmerksamkeit auf den Festivals sorgen sollten, nötig gewesen wären. Andererseits ist es konsequent, den Explosionen der Lust ähnlich viel Raum zu geben wie den Szenen voller Liebe - beides gehört schließlich zusammen, zumindest in diesem Film.

Ich weiß nicht, ob ich den Film nicht doch besser gefunden hätte, wenn manche Konflikte weiter erzählt worden wären. Ich hätte zum Beispiel gerne erfahren, wie Adèle mit ihren Eltern umgeht, die nichts von ihrer Homosexualität wissen. Bricht sie mit ihnen? Versöhnt sie sich? Der Film erzählt weder das eine noch das andere. Und - wie gesagt - der Konflikt wurde offensichtlich absichtlich weg gelassen. Doch nützt die Auslassung der Story oder schadet sie ihr eher?

Ich bin sehr unentschlossen. Ich hätte mit aber gewünscht, manche Motivation von Adèle klarer zu verstehen. Was macht sie zu einer Frau, die nicht loslassen kann? Wieso kann sie nie über ihren eigenen Schatten springen und sich weiter entwickeln? Und warum ist Emma umgekehrt plötzlich so gnadenlos und brutal, dass sie Adèle von einem Moment auf den anderen aus ihrem Leben wirft? Der Regisseur und die Hauptdarstellerinnen kennen die Figuren gut genug, so dass alle Handlungen glaubhaft sind. Aber nachvollziehbar sind sie nicht unbedingt immer - und so glaube ich, der Film hätte eher gewonnen als verloren, wäre manches nicht offen gelassen worden.


Erst nach dem Kinobesuch habe ich gelesen, dass der Film auf einer Comic-Vorlage basiert. Das ist sehr interessant, denn die Comic-Dramaturgie lebt viel stärker von großen Auslassungen als die des Films. Im Comic muss der Leser wenige Bilder im Kopf selbstständig zu kompletten Szenen oder Szenarien zusammensetzen. Was zwischen den Panels fehlt, wird durch die Fantasie ergänzt. Im Film gibt es diese Auslassungen normalerweise nicht. In Comic-Verfilmungen werden daher oft Lücken geschlossen und Erklärungen geliefert, die in den Vorlagen fehlen. Figuren sind in Filmen stärker motiviert als in Comics. Ich habe die Vorlage nicht gelesen, habe aber den Eindruck, dass sich Kechiche vorgenommen hatte, den Erzähl-Stil des Comics beizubehalten. So ist zumindest ein spannendes Film-Kunstwerk entstanden, das mich berührt hat, das ich aber wohl erst dann besser verstehe, wenn ich es mit der Vorlage verglichen habe.

Aber vielleicht sollten manche Geschichten einfach nicht analysiert und verstanden werden, um sie nicht zu zerstören. Das ist zumindest die Meinung von Adèle, mit der sie sich in den ersten Filmminuten dem Zuschauer vorstellt.

1 Kommentar:

  1. Juerg Andreas Meister4. Februar 2014 um 18:55

    hier meine halbspontane antwort, leider kaum zeit, sie reinzuwaschen:

    wie gesagt, ich fand den film auch wunderbar und wurde sehr bewegt. das liegt vermutlich wirklich an diesem "stream of emotion", mit dem versucht wird, ein gefühl in bilder zu übersetzen, was wirklich viel konzentration von der szenerie bis zum schnitt hin braucht. ich glaube, dem stünden randkonflikte (wie mit den eltern) wirklich im weg, weil diese verkomplexisierung von der 'einfachheit' der emotionen ablenken würde (einfach in bezug auf die 'leichtigkeit der liebe', als ein gefühl jenseits intellektueller verworrenheit). darum war es für mich kein verlust, diese konflikte außen vor zu lassen - auch weil das thema 'outing vor den eltern' inzwischen schon öfters erzählt wurde.
    genau wie du finde ich nämlich auch, dass es weniger ein film über lesbisch-sein ist, und dass das queere zu selbstverständlichem wird indem es als plotelement zurücktritt ist gerade auch das tolle.
    dann zu adele: dass sie nicht tiefer in das kunstgeschäft eintritt, hat glaube ich verschiedene gründe. zum einen interessiert sich emma einen scheiß für adeles arbeit, und mit der typischen (khm-)oberschichten-arroganz degradiert sie die tätigkeit als grundschullehrerin zur beschäftigung fürs proletariat, von den höhen der kunst weit entfernt. wie hoch die kunst steht, erfährt man dann ua. auf der party, bei der dieser komische laberkopf den dicken künstler markiert, ohne viel mehr zu sagen als die durchschnittliche postkartenweisheit. -- die arbeitssphären der beiden scheinen also irgendwie gegeneinander abgeriegelt zu sein, was an emmas arroganz - aber auch an adeles fehlendem verständnis dafür liegt. das heißt nicht, dass sie doof ist, aber als klassisch-intellektuelle wird sie nun mal nicht dargestellt. dazu passt auch am ende der satz, zu dem sie den kindern von fliegenden giraffen etc erzählt - ich glaube, er geht "die poeten können die welt beschreiben, sie müssen sie aber nicht verstehen". man kann das leben - und die kunst! - also genießen, ohne sie zwangsweise analytisch zu durchleuchten.
    was bis dahin eine gleichstellung von kunstproduktion (wenn man wissenschaft + kritik einschließt) und -rezeption erwirkt, schlägt dann für mich um in eine kritik des kunstbetriebs, der im film als recht pervertierter dargestellt wird. kapitalistische marktgedanken zwingen zu immer mehr output und dazu, die nachfrage zu bedienen: alle finden phantastisch, dass eine frau nackte frauen malt, und merken nicht, dass emma das objekthafte in der frau aus 4000 jahren männerkultur weitermalt und adele allein als sexy muse darstellt. von liebe keine spur. wenn man also die motivationslücke vor dem eiskalten beziehungsbruch füllen will: der kunstmarkt hat die liebe aus emma herausgesogen.
    das ist aber vermutlich ein wenig verkopft, und für mich stand das urplötzliche, unmotivierte schlussmachen eher im zusammenhang mit etwas anderem, nämlich der traumlogik. ich glaube, adeles gesammte liebesgeschichte als traum zu lesen, liegt denkbar nahe: die endlosen gesichts-close-ups der schlafenden adele, die blauen haare von emma, die zu schönen bilder am fluss. und eben jene traumlogik. emma kann übrigens gar nicht gesehen haben, wie adele und ihr freund sich geküsst haben - die beiden haben sich extra eine straßenecke weiter verabschiedet. unmotiviertes wissen, auch so ein traumding. und dann, plötzlich und scheinbar ohne anlass, wird alles zum alptraum, die beziehung nimmt ein brutal-kaltes ende, und man möchte nur noch aufwachen. gewaltvoller kann man den zuschauer nicht mitreißen.

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