Dienstag, 31. Dezember 2013

Aufbruch in die Krise


Zum Jahreswechsel habe ich mit meinen Kollegen von BROADVIEW TV einen Zeitstrudel gebastelt, der 100 Jahre zurück in die Vergangenheit führt.

1914 war ein spannendes Jahr voller Chancen, in denen sich in Kunst und Kultur neue Wege auftaten und das Alte Europa zu verschwinden begann. Wie konnte es unter diesen positiven Vorzeichen zur ersten großen Krise des letzten Jahrhunderts kommen? Wieso brach 1914 der Erste Weltkrieg aus?

In unerem Multimediaprojekt „1914 – Aufbruch in die Krise“ beschäftigen wir uns genau mit diesen Fragen. Die Geschichte, wie ein Europa mit den besten Zukunftschancen in einen blutigen Krieg mit unvorstellbar schrecklichen Folgen geraten konnte, ist spannend wie ein Thriller. Ein Polit-Krimi, den wir auf unserer interaktiven Seite mit Videos, Grafiken, Bilderstrecken und Texten zum Leben erwecken. Welche Schlüsse können wir aus der Geschichte ziehen – was können wir im Europa des Jahres 2014 besser machen als unsere Vorfahren vor 100 Jahren?

Ich wünsche euch einen guten Start ins Jahr 2014 und würde mich freuen, wenn ihr ein wenig Zeit im Jahr 1914 verbringt und mein Projekt teilt!

www.aufbruchindiekrise.de

Dienstag, 24. Dezember 2013

Der gruseligste Adventskalender der Saison... #24

Achtung! Diese weihnachtlich-traurige Gruselgeschichte startet bei TÜRCHEN 1!
Hier endet die Geschichte mit:

TÜRCHEN 24

Die Hitze umschloss Lottes Gesicht, doch dann wurde das Klingeln, das zuerst nur schwach geklungen hatte, plötzlich lauter. Es breitete sich im Raum aus und schien wie Wasser auf das Feuer zu wirken. Krrrrrrrling! Lotte erkannte das Geräusch als das der Türklingel. Es schrillte laut durch den Raum und vertrieb die Hitze. Als das Klingeln verklungen war, war alles wieder still. Vorsichtig blinzelte Lotte in den Raum hinein. Sofort sah sie, dass der Weihnachtsbaum verschwunden war. Hier brannte nichts mehr.

Mutig schlug sie die Augen auf. Die Geschenke waren ebenfalls verschwunden. An der Decke tanzten keine Schatten. Nirgendwo brannte eine Kerze. Lotte drückte auf den Steg zwischen ihren Brillengläsern, um die verrutschte Brille am Nasenbein hochzuschieben.
Vorsichtig erhob sie sich und bewegte sich tastend zur Wand. Sie sah sich immer wieder ruckartig um, da sie damit rechnete, jeden Moment von irgendwoher angegriffen zu werden. Von einem Plüschdrachen, einer wild gewordenen Playmobil-Meute, einem Geisterkind… Doch nichts passierte. Nachdem Lotte den Lichtschalter gedrückt hatte, sah sie im nüchternen Licht der Deckenlampe, dass das Wohnzimmer wieder genauso aussah wie zu Beginn des Abends. Spartanisch und ohne jeden Weihnachtsschmuck. Auf dem Wohnzimmertisch lag Lottes zugeklappter Laptop. Daneben die Ohrringe, die sie ausgezogen hatte, um mit Birte zu spielen. Warum hast du das getan? Wolltest du wieder Kind sein und mit deiner Schwester spielen? War Birte wirklich hier gewesen? Wollte sie dich umbringen?

Lotte ging zum Tisch, nahm die Ohrringe und betrachtete sie analytisch. Wenn das alles wirklich passiert war: Wieso lebte sie dann noch? Wieso war sie nicht bestraft worden?
Plötzlich klopfte es an der Tür. Lotte schreckte auf und ging ein paar Meter auf die Tür zu. Was mochte sich dahinter wieder für eine Überraschung verbergen? Was hatte die Nacht mit Lotte noch vor? „Hallo?“ fragte sie mit zitternder Stimme.
Hinter der Tür hörte sie ihre kauzige Vermieterin: „Guten Abend. Hier ist Frau Quandt. Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“
„Ähm…“ Wie kommt die denn hierher? Ist sie mit der Polizei angerückt, um mich in die Klapse einzuweisen oder… „Ja, es ist alles in Ordnung. Machen Sie sich keine Sorgen.“
Frau Quandt antwortete durch die Tür: „Hier ist Besuch für Sie. Aber ich weiß nicht, ob sich die Tür öffnen lässt, denn…“ Lotte versuchte es. Sie drückte die Klinke nach unten und tatsächlich war die Tür nicht mehr verschlossen. Langsam zog sie sie auf. Frau Quandt und eine alte Dame, die Lotte noch nie zuvor gesehen hatte, blickten neugierig ins Wohnzimmer.
„Waren hier Gespenster?“ fragte die alte Dame neben Frau Quandt neugierig. „Wir haben völlig verrückte Geräusche gehört!“

Sie schob ihren Kopf in den Raum und gab den Blick auf eine dritte Person im Flur frei. Hinter den beiden Alten stand Mama. Johanna Quandt erklärte: „Wir haben uns erlaubt, an Ihr Telefon zu gehen. Ihre Mutter war am Hauptbahnhof und hat nach Ihrer Adresse gefragt.“
Lottes Mutter machte einen Schritt auf ihre Tochter zu. Sie trug einen langen schwarzen Wintermantel, der mit Schneeflocken übersät war. „Ich habe deine E-Mail gelesen“, sagte sie vorsichtig. „Und ich dachte, dass du recht hast. Es ist gut, dass wir heute nicht zusammen feiern. Aber dann habe ich zu Hause vor dem Fernseher gesessen und an Birte gedacht. Ich wollte dich sehen... Es tut mir leid.“

Lotte stürmte auf ihre Mutter und fiel ihr um den Hals. „Es ist alles meine Schuld gewesen“, schluchzte sie. „Ich habe auf den roten Knopf gedrückt und Birtes Gurt gelöst. Hätte ich das nicht getan, dann würde sie noch leben. Dann wäre alles gut!“
„Dein Vater und ich waren an dem Unfall schuld“, unterbrach Mama. Sie drückte Lotte eng an sich und streichelte mit beiden Händen durch ihr Haar. Während Lotte sich schluchzend in ihrem Pullover vergrub, flüsterte Anna Mertens ihrer Tochter zärtlich ins Ohr: „Ich war schrecklich zu dir... Nichts war jemals deine Schuld...“ Sie küsste Lottes Stirn, woraufhin Lotte sich von ihrer Mutter löste und sie lächelnd ansah. Lotte nahm die Hand ihrer Mutter und drückte sie. „Danke, dass du gekommen bist“, sagt sie. „Du hast mich gerettet.“
„Wie meinst du das?“ fragte Mama. Sie lächelte auch. Lotte hatte das Gefühl, ihre Mutter noch nie so glücklich gesehen zu haben.
„Ich weiß es nicht genau. Aber ich glaube, du hast mich gerettet.“
Plötzlich mischte sich Johanna Quandt von der Seite ein. „Und ich glaube, wir haben noch etwas Weihnachtsgans zu Hause. Wenn Sie mögen, sind Sie herzlich eingeladen, mitzukommen.“
„Und einen Pflaumenschnaps können Sie auch gut vertragen“, sagte Mathilde Quandt, die aus dem Wohnzimmer zurück in den Flur kam. Sie schüttelte sich und fügte hinzu: „Nach allem, was hier passiert ist.“
„Was ist denn nur passiert?" fragte Mama halb verwirrt und halb neugierig. Lotte antwortete wieder nur: „Egal was es war: Du hast mich davor gerettet.“


Bevor sie die Wohnung verließen, warf Lotte einen letzten Blick zurück ins Wohnzimmer. Im leeren Raum funkelte sie etwas hell und deutlich an: Zwischen Tisch und Sessel lag Birtes Schneidezahn. Lotte wusste, dass sie nur knapp entkommen war. Ein Unfall war passiert, der ihre Familie zerstört hatte. Eine Katastrophe, in die ihre Familie mit Vollgas heinein gerast war. An ihr hatte niemand Schuld, aber sie war unausweichlich gewesen. Lotte und ihre Mutter hatten überlebt. Heute Nacht waren sie nur knapp entkommen und hatten die Chance bekommen, es besser zu machen. Die Überlebenden haben den Toten gegenüber die Pflicht, es besser zu machen.

Während Lotte ihren Blick abwendete, verschwand der Schneidezahn. Deshalb sah Johanna Quandt ihn nicht, als sie noch einmal überprüfte, ob im Wohnzimmer alles in Ordnung war. Sie würde später von der jungen Mieterin ganz genau wissen wollen, was heute Abend passiert war. Und wenn sich bestätigte, was sie vermutete, dann würde sie ihrer Schwester Mathilde mitteilen, dass diese Wohnung niemals wieder vermietet werden würde…

Montag, 23. Dezember 2013

Der gruseligste Adventskalender der Saison... #23

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TÜRCHEN 23

Lotte lag zusammengekrümmt auf dem Boden und starrte an die Decke. Die Schatten der Weihnachtspyramide zogen gleichmäßig über sie hinweg. Doch es lag kein weihnachtlicher Duft mehr in der Luft. Die Schatten wirkten bedrohlich, als kämen sie von einem Kampf-Hubschrauber, der sich aus der Ferne näherte, um auf Lotte den Beschuss zu eröffnen. Sie hatte die Knie an sich herangezogen. In Fötusstellung hoffte sie wimmernd, dass sie Erkenntnis, die über sie hereingebrochen war, nur ein Alptraum war. Dass sie aufwachen und sofort alles wieder vergessen haben würde, was ihr mit einem Schlag ins Bewusstsein gerauscht war. Du hast Birte getötet. Mama hatte recht: Du bist Schuld, dass sich die Familie aufgelöst hat!

Vorsichtig drehte Lotte ihren Kopf zu Birte und sagte: „Es tut mir so leid. Ich war ein Kind. Ich wusste nicht, was ich tue.“
„Du wolltest, dass ich sterbe. So wie du mir weh tun wolltest, als du mir den Zahn ausgeschlagen hast“, sagte Birte. Sie stand inmitten der Geschenke. Alle Playmobil-Figuren hatten sich neben ihr in Reih und Glied aufgebaut und starrten Lotte aus leeren grinsenden Gesichtern an. Birtes Gesicht hatte nichts Kindliches mehr. Sie sah Lotte mit eiskalter Miene an. Birte wirkte alt: Wie eine 20-Jährige im Körper eines Kindes. Wie Lotte, die auf unter einen Meter zusammengestaucht worden war. „Du hast mich umgebracht und musst bestraft werden.“
Lotte nickte. „Ja, ja, du hast recht.“ Tränen rannen in Bächen über ihr heißes Gesicht und schlugen platschend aufs Parkett. Birte war tot, Papa war tot, Mama wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben… Ich habe alles kaputt gemacht und muss bestraft werden.
In dem Moment sagte die kleine Birte (Mein kleines Ich) mit strenger kalter Stimme: „Kwisitas – Fass!“
Und obwohl Lotte an diesem Abend schon die verrücktesten Dinge gesehen hatte, konnte sie nicht glauben, was in diesem Moment geschah: Der Plüschdrache neben Birte schlug mit seinen dünnen Stoff-Flügeln und hob ein Stück vom Boden ab. Die angenähte Flamme verwandelte sich in echtes Feuer, so als hätte der Drache einen Bunsenbrenner im Maul.
Lotte konnte den leichten Lufthauch der schlagenden Flügel auf ihrem Gesicht spüren, als der Drache einmal um Birte herum flatterte. Die Playmobil-Figuren bewegten sich ebenfalls und wankten mit ihren steifen Hüften zum Puppenhaus. Sie setzten sich davor und und hoben und senkten ihre Arme, während sie ihre Köpfe nach links und rechts drehten – wahrscheinlich ihre einzige Möglichkeit, zu jubeln. In die Hände klatschen konnten sie nicht. Das aufgemalte Grinsen der Figuren kam Lotte zynisch vor. Kalte Angst packte sie, als ihr klar wurden, dass die Playmobil-Männchen sich hingesetzt hatten, um als voyeuristische Zuschauer ihrer Hinrichtung beizuwohnen. Kwisitas, der freundliche Bunsenbrenner-Drache, flog jetzt um den Weihnachtsbaum herum und spie eine Stichflamme, die eindrucksvoller und länger war, als Lotte es für möglich gehalten hätte. Der Baum fing Feuer. Flammen griffen in atemberaubender Geschwindigkeit von Zweig zu Zweig und verwandelten die weihnachtliche Pracht in einen knisternden Scheiterhaufen. Wie ein teuflischer Racheengel stand Birte vor dem flammenden Inferno und fixierte ihren starren Blick auf ihre Schwester, die sie durch eine kindische Dummheit umgebracht hatte.

Kwisitas flog mit weit aufgespannten Plüsch-Flügeln über Birtes Kopf hinweg. Vor dem brennenden Weihnachtsbaum wirkte es so, als käme der Drache direkt aus dem Fegefeuer, um über Lotte zu richten. Lotte krabbelte hilflos ein paar Meter zurück und strampelte mit den Beinen, die in der Kuschelhose mit der Maus und dem Elefanten steckten. Sie war jetzt das Kind! Und Birte richtete über sie. Als Lotte versuchte, sich aufzurichten, schoss eine lange tödliche Flamme aus Kwisitas‘ Maul und umhüllte Lotte heiß und unnachgiebig. Irgendwo ganz weit weg hörte sie ein Klingeln.

Sonntag, 22. Dezember 2013

Der gruseligste Adventskalender der Saison... #22

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TÜRCHEN 22

„Kannst du etwas hören?“ fragte Mathilde neugierig, während sich Johanna an die Wohnungstür im dritten Stock lehnte. Sie hatten ein grausiges Kreischen gehört. Mathilde war sich sicher gewesen, das Wort „umgebracht“ vernommen zu haben, doch Johanna hatte sie gescholten, keinen Unsinn zu fantasieren. Jetzt war in der Wohnung alles still. Johanna drückte ein par Mal auf den Klingelknopf. Es war kein Klingeln zu hören.
„Die Geister wollen nicht gestört werden“, hauchte Mathilde.
Diesmal verzichtete Johanna darauf, ihre Schwester zu ermahnen. Stattdessen hämmerte sie feste gegen die Tür. „Hallo! Frau Mertens! Sind Sie da? Geht es ihnen gut?“

„Hallo! Frau Mertens!“
Hatte da jemand nach ihr gerufen? Lotte war sich nicht sicher. Und falls ja, dann war das Rufen unendlich weit weg. In ihren Ohren klingelte noch Birtes Schrei. Die Schwester hatte sich wie ein kleiner Rachenegel breitbeinig vor ihr aufgebaut. Neben ihr lag der kleine Plüschdrache auf dem Boden und spie seine angenähte Stoff-Flamme in Lottes Richtung. Als würde Birte die Drachenkönigin Daenerys Targaryen aus „Game of Thrones“ im Schultheater spielen. Und wie Daenerys wird sie dich nicht davon kommen lassen. Denn DU hast sie umgebracht!
Plötzlich erinnerte sich Lotte an den Unfall in all seinen Details. Sie wunderte sich, wie sie ihn überhaupt hatte vergessen können. Sie hatte gewusst, dass Birte bei einem Autounfall gestorben war. Aber sie hatte nicht mehr den Unfall selbst vor Augen gehabt. Und was noch seltsamer war: Sie hatte sich niemals darüber gewundert. Genauso wenig wie es sie erstaunt hatte, dass sie Birtes Aussehen vergessen hatte. Das nennt man wohl Verdrängung.
Doch jetzt war alles wieder da: Birte sitzt im Kindersitz. Es ist einer für kleine Kinder. Mit einem Tischchen vorne dran, auf dem ein Malblock liegt, in den Birte hinein kritzelt. Ihren Plüschdrachen Kwisitas hat sie unter den Arm geklemmt. Auch Lotte sitzt auf einem Kindersitz, ihrer hat kein Tischchen. Mama und Papa sitzen vorne. Sie streiten. „Du hast Angst zu fahren und bist gleichzeitig zu bescheuert, die Karte zu lesen! Wozu bist du überhaupt gut!“, brüllt Papa. Mama knickt die Karte um und sucht verzweifelt etwas. Sie brüllt zurück: „Wenn du die Ausfahrt nicht verpasst hättest, dann hätten wir jetzt kein Problem!“ Lotte würde am liebsten schreien, dass sie still sein sollen. Wenn Mama und Papa zu Hause streiten, dann zieht sich Lotte in ihr Zimmer zurück und hofft, dass bald alles wieder gut ist. Im Auto kann sie nicht weg. Und Birte sitzt neben ihr und malt, so als wäre nichts. So als würde sie Mama und Papa nur streitend kennen und sich deshalb nicht erschrecken. Wie kann sie nur so ruhig sein! Das macht Lotte SO SCHRECKLICH wütend! Was kann sie tun, damit Mama und Papa zu streiten aufhören? Und dann hat Lotte den selben aggressiven Impuls wie damals im Sandkasten, als sie Birte den Zahn ausschlug. Sie versucht gar nicht erst, den Impuls zu unterdrücken, sondern gibt ihm sofort nach. Lotte beugt sich vor und muss ihre Hand ausstrecken, um den roten Knopf erreichen zu können. Ihr Gurt versucht Lotte zurückzuhalten, doch als sie sich noch ein Stück weiter vorbeugt, schafft sie es, den Knopf an Birtes Gurt zu erreichen. Lotte drückt ihn! Der Gurt rollt sich ab, das Tischchen löst sich und fällt Birte vor die Füße. Birte schaut irritiert, dann weint sie. „Hier hast du die Karte!“, schreit Mama und knallt sie Papa auf das Lenkrad. Er bremst. Die Karte schlägt vor Papas Gesicht. Das Auto rutscht irgendwie, während Papa am Lenkrad reißt. Und da, wo Birte gesessen hat, ist jetzt ein leerer Kindersitz. Auch der Drache Kwisitas ist davongeflogen. Ehe Lotte über den leeren Sitz nachdenken kann, wird ihr Kopf durchgeschüttelt. Irgendetwas kracht. Das Auto stößt wogegen. Als es zum Stehen kommt, sieht Lotte, dass die Frontscheibe zerbrochen ist. Ein ausgefranstes Loch prangt in ihrer Mitte. Und der Kindersitz neben Lotte ist leer. Mama und Papa streiten nicht mehr. Irgendwo ruft jemand nach Lotte. Irgendwo am anderen Ende der Welt.

„Hallo? Frau Mertens?“ Johanna ging voran und zog den Generalschlüssel aus dem Schloss. Mathilde folgte vorsichtig. „Entschuldigen Sie, dass wir einfach reingekommen sind, aber wir…“
„Es tut mir so leid! Es tut mir so leid, Birte!“ Mathilde drängelte an ihrer Schwester vorbei, als sie die verzweifelten Entschuldigungs-Bekundungen aus dem Wohnzimmer hörte. Sie stolperte beinahe über die Sachen, die auf dem Boden lagen: Ein Mantel und eine ausgeschüttete Handtasche. Mathilde erreichte die Tür.
„Frau Mertens, ich helfe Ihnen! Ich… Machen Sie auf!“ Mathilde zerrte an der Wohnzimmertür. Sie war so fest verschlossen, dass sie sich nicht einen Millimeter rührte. Johanna schob ihre Schwester zur Seite und versuchte ihre Glück. Nichts zu machen, die Tür zu dem Zimmer, in dem sie die junge Frau Mertens weinen und schreien hörten, ließ sich nicht öffnen. Sie scheint tatsächlich wahnsinnig zu sein. Dachte Johanna. Kann es wirklich sein, dass an Weihnachten alle Menschen in dieser Wohnung dem Wahnsinn verfallen? Johannas Magen verkrampfte sich. Als sie Lottes heulende Schreie hörte, glaubte sie zum ersten Mal, seit sie diese Wohnung vermietete, dass es darin spuken könnte.
Ein schrilles Piepen tönte durch den Flur! Johanna fuhr herum. Mathilde hielt ein Handy in der Hand, das sie auf den Boden fallen ließ, als es plötzlich klingelte. Der Vibrationsalarm ließ es auf dem Parkett tanzen. „Das lag hier. Ich habe es eingeschaltet“, stammelte Mathilde so aufgeregt, als hätte sie versehentlich eine Explosion ausgelöst. „Ich dachte, vielleicht, können wir Hilfe…“
Johanna hob das Handy auf. Im Display blinkten die Worte „Mama ruft an“.

Samstag, 21. Dezember 2013

Der gruseligste Adventskalender der Saison... #21

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TÜRCHEN 21

Lotte hatte sich ihre neuen Ohrringe ausgezogen und neben ihren Laptop auf das Tischchen gelegt. Während die letzte Strophe von „Oh du Fröhliche“ lief, hatte sie alle Teile des Playmobil-Puppenhauses aus der Verpackung genommen. Und während sie das Puppenhaus sorgfältig zusammengebaut hatte, hatte sich Lotte in ein Kind zurück verwandelt. Der Arm des Plattenspielers hob nach „Oh du Fröhliche“ aus der Rille ab und schwenkte auf die Halterung zurück, während die Schallplatte an Schwung verlor und auslief. Birte saß im Schneidersitz neben Lotte und schaute mit großen Kinderaugen fasziniert zu, wie aus groben Plastikteilen ein filigranes Puppenhaus wurde, das dem Altbau, in dem sie sich mit ihrer Schwester befand, gar nicht so unähnlich war.

Jetzt, wo die Musik nicht mehr spielte, war es absolut ruhig in der Wohnung. Weihnachtliche Stille. Dachte Lotte. Diesmal wollte sie sie nicht ablehnen sondern ganz in sich aufnehmen. Es war, als sei ihr das Weihnachtsfest geschenkt worden, dass ihr durch Birtes Tod geraubt worden war. Birte schien ein wenig älter zu sein als kurz vor ihrem Tod. Sie konnte sprechen. „Das ist wunderschön“, sagte sie mit ihrem schwachen Stimmchen, als Lotte das Playmobil-Haus fertig aufgebaut hatte. Lotte warf ihrer Schwester ein breites Lächeln zu. Sie fühlte sich wie in einem zuckersüßen Tagtraum – einer Drogenfantasie, die niemals aufhören sollte. Lotte hinterfragte nicht mehr, warum die Dinge geschahen. Die Glücksgefühle über die Rückkehr ihrer toten Schwester überwältigten sie so sehr, dass sie nicht mehr klar denken konnte.

Vorsichtig streckte sie die Hand nach Birte aus. Das Mädchen zuckte nicht zurück. Lotte überlegte kurz, die Hand zurückzuziehen. Wenn ich sie berühre, wird sie verschwinden. Denn sie ist nur ein Geist. Doch sie tat es nicht, sondern stellte erstaunt fest, dass sich Birtes Wange warm und weich anfühlte. „Du bist wirklich zurück!“ rief Lotte fröhlich aus und drückte das hübsch zurecht gemachte Kind im Sternenkostüm feste an sich. Sie küsste Birtes Stirn und streichelte das dichte Haar in ihrem Nacken. Birte wand sich kichernd aus der Umarmung. „Ja!“ sagte sie. „Aber jetzt lass‘ uns spielen!“

Ungeduldig riss Birte eine Plastiktüte auf und schüttete ein paar Playmobill-Figuren heraus. Da war der reiche Familienvater mit dem Zylinder und die Mutter mit dem breiten Hut. Der Sohn der Familie trug einen Matrosenanzug. Es gab auch einen Kinderwagen mit Baby.
Geschickt drückte Birte den Kinderwagen in die Hände der Mutter. Das hätte sie damals nicht so schnell hinbekommen. Aber jetzt war sie älter. Sie ist die Birte, die sie beim nächsten Weihnachtsfest gewesen wäre… Dachte. Lotte. Sie ist wunderschön.

Birte ließ die Playmobil-Frau den Kinderwagen ein Stück weit schieben. Dann drehte sie ihren Kopf zum Vater rüber. „Ich gehe mit den Kindern einkaufen!“ rief Birte mit verstellter Stimme. Dann blickte sie zu Lotte auf. „Hey, du musst den Vater spielen!“
„Oh, Entschuldigung!“ Eilig griff Lotte die Vater-Figur und sagte mit tiefer Stimme: „Tu das Schatz! Ich lese so lange die Zeitung!“ Lotte klemmte dem Vater die Plastikzeitung in die Hand und setzte ihn in den Wohnzimmersessel.
Birte nickte zufrieden, dann schob sie die Playmobil-Mutter mit dem Kinderwagen ein Stück weiter vorwärts. Lotte nahm sich den Jungen mit dem Matrosen Anzug und ließ ihn hinter der Mutter mit dem Kinderwagen her rennen. „Wartet! Wartet! Ich will auch mit zum Einkaufen!“
Die Mutter blieb stehen. Birte drehte wieder ihren Kopf. „Nein!“ ließ sie die Mutter streng sagen. Und in Birtes Stimmchen war keine Zartheit mehr zu erkennen. Sie klang eher wie ein kläffender Welpe, der bedrohlich sein will. „Du darfst nicht mitgehen. Nur ein Kind darf mit! Du bleibst bei deinem Vater!“

Lotte blickte auf und sah, dass Birte sie zornig ansah. Ihre Stirn lag in Falten, ihr Kopf war rot angelaufen, ihr Kinn zitterte. In Birtes Augen standen Tränen. Lotte streckte die Hand nach ihr aus, doch Birte wich aus. Sie wendete ihren Blick von Lotte ab. „Du bleibst bei deinem Vater“, hatte Birte gesagt. Ein Kind ist bei der Mutter, das andere beim Vater. Ein Kind ist tot, das andere lebt. „Ist Papa bei dir?“ hörte sich Lotte plötzlich fragen. „Ist er tot?“
Birte drehte sich nicht zu Lotte um, während sie nickte. „Ich spiele gerne mit dir“, sagte sie, während sie trotzig die Arme verschränkte.
„Birte, ich…“ Es fiel Lotte schwer, zu sprechen. Tränen sammelten sich wieder in ihren Augen. Papa ist tot. Genau wie Birte. Aber die Toten können zurückkommen. „Birte, ich…Ich spiele doch auch gerne mit dir.“

Birte drehte sich so ruckartig zu Lotte herum, dass sie erschreckt vor ihrer Schwester zurückwich. Der blanke Zorn flackerte in Birtes Augen, als sie mit seltsam hysterischer Stimme kreischte: „Warum hast du mich dann umgebracht?“

Freitag, 20. Dezember 2013

Der gruseligste Adventskalender der Saison... #20

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TÜRCHEN 20

Mathilde hatte gefordert, den dritten Stock nicht mehr zu vermieten. Doch Johanna hatte sie als abergläubische Idiotin bezeichnet und gesagt, sie werde nicht auf Einnahmen verzichten, nur weil Mathilde an Geister glaube.
Nachdem eine Bombe das Haus im Krieg beinahe ausgehöhlt hatte, hatten die Renovierungsarbeiten bis Ende der 50er Jahre gedauert. Kurz danach zogen die ersten Mieter ein, die aber nicht lange Mieter bleiben sollten. Mathilde erinnerte sich, wie ihr Vater kreidebleich auf dem Bürgersteig gestanden hatte. Feuerwehr und Polizei standen zwischen ihm und einer Meute Schaulustiger, die einen Blick auf die vier Leichen werfen wollten. Am Weihnachtsabend hatte Herr Schmitz seine Familie getötet. Zuerst hatte er seine fünfjährige Tochter aus dem Fenster geworfen, dann seinen zweijährigen Sohn. Seine Frau hatte er mit dem verpackten Staubsauger, den er ihr wohl hatte schenken wollen, bewusstlos schlagen müssen, bevor auch sie aus dem Fenster flog. Er sprang hinterher, bevor die Polizei eintraf. Ein Psychologe vermutete später, Herr Schmitz sei Amok gelaufen, da er unter einer schweren Kriegstraumatisierung litt.

Der Vorfall hatte die Zeitungen lange beschäftigt, so dass die Wohnung schwer wieder zu vermieten gewesen war. Erst fünf Jahre später zog ein junges Ehepaar ein. Die Frau war schwanger. Jedenfalls bis sie am Weihnachtsabend eine Fehlgeburt erlitt. Ihr Mann und sie kamen in eine Psychiatrische Klinik: Sie behaupteten, ihre verstorbene Mutter sei ihnen nach der Bescherung erschienen und hätte die beiden so sehr verängstigt, dass die junge Frau ihr Kind verloren hatte.
Ein dritter Mieter hatte einmal an Weihnachten versucht die Wohnung anzuzünden, weil er Geister zu sehen glaubte. Diesen Fall hatte Mathildes und Johannas Vater nicht mehr miterlebt. Er war im Sommer 1969 gestorben und hatte das Haus auf seine beiden Töchter überschrieben.
Der letzte Vorfall ereignete sich dann schon an Weihnachten 1970: Johanna hatte die Wohnung mit einer Wand zweigeteilt und sie an jeweils ein junges Paar vermietet. Am Tag nach heilig Abend hatten beide Paare die dünne Trennwand durchschlagen und sich gegenseitig mit diversen Küchengeräten gelyncht.

Da hatte Mathilde gefordert, die Wohnung nicht mehr zu vermieten.
„Menschen sind verrückt“, hatte Johanna gesagt. „Daran werden wir nichts ändern. Und warum wir die Verrückten anziehen, weiß ich auch nicht.“
„Der dritte Stock ist gefährlich! Es spukt darin, seit…“ Mathilde biss sich auf die Zunge.
„Ja? Seit wann?“ hakte Johanna nach. Und Mathilde erzählte ihr, wie sie kurz nach dem Krieg im dritten Stock gestanden hatte. „Man konnte durch das riesige Loch der Bombe durch alle Stockwerke bis in den Keller schauen. Das sah sehr verrückt aus. Und unter dem Keller ging es noch viel tiefer weiter. Bis in die tiefste tiefste Dunkelheit.“
„Was soll das sein, die tiefste tiefste Dunkelheit?“ Johanna runzelte die Stirn und Mathilde zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Irgend etwas Böses ist durch die Bombe geweckt worden und schlägt immer an Weihnachten zu.“
Da hatte Johanna herzlich gelacht und Mathilde hatte weinen müssen, weil ihre Schwester sie nicht ernst nahm. Und weil Johanna ihre Schwester nicht gut weinen sehen konnte, hatte sie sie getröstet und eine Vereinbarung mit ihr getroffen: „Wir vermieten die Wohnung weiter. Und an Weihnachten sorgen wir dafür, dass niemand dort ist.“ Die beiden Damen hatten schnell herausgefunden, dass es in diesem Fall am besten ist, nur noch an Studentinnen und Studenten zu vermieten – auch wenn sie Studentinnen und Studenten eigentlich nicht mochten und den schönen Altbau zu schade für faule junge Leute fanden. Aber Studenten bekam man leicht an Weihnachten vor die Tür – sie besuchten normalerweise über die Feiertage ihre Familien.

Tatsächlich war seitdem an Weihnachten immer Ruhe gewesen. Bis heute. Johanna und Mathilde standen an der selben Stelle, an der ihr Vater vor beinahe 60 Jahren die tote Familie identifizieren musste. Die beiden Damen blickten an der Fassade hoch und sahen, dass im dritten Stock Licht brannte – in den anderen Etagen war es dunkel. „Tatsächlich, das Mädchen ist zu Hause und nicht in München“, stellte Johanna fest.
„Glaubst du, wir werden Geister sehen?“ fragte Mathilde mit leicht zitternder Stimme, während sie mit Johanna zur Haustür ging. Johanna warf ihrer Schwester einen finsteren Blick zu. „Denk gar nicht erst daran. Es wird nichts aufregendes passieren.“
Aber Mathilde hörte Johannas Stimme an, dass sie sich auch fürchtete. Zum ersten Mal seit 40 Jahren war an Weihnachten wieder jemand in der Wohnung. Und schon drohte wieder Unheil zu passieren. Das konnte tatsächlich kein Zufall sein. Johanna suchte nach der richtigen Klingel und drückte schließlich bei „Wagner/Mertens“.

„Kindchen mach auf“, flüsterte Mathilde, als nach etwa zehn Sekunden weder die Sprechanlage noch der Türsummer aktiviert worden waren. Eilig drückte Mathilde dreimal hintereinander auf den Klingelknopf. Johanna suchte an ihrem übervollen Schlüsselbund nach dem Generalschlüssel des Hauses.

Donnerstag, 19. Dezember 2013

Der gruseligste Adventskalender der Saison... #19

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TÜRCHEN 19


Lotte ließ sich erschöpft aufs Sofa sinken und betrachtete die Geschenke. Vor ihr lag all das Zeug, das Mama eine Woche nach Weihnachten (kurz nach Birtes Tod) weggeworfen hatte. All das Zeug, das Lotte nicht mehr verdient hatte, weil Birte tot war. Lotte ballte ihre Hände zu Fäusten und starrte auf die Spielsachen, die aus einem Berg von zerrissenem Geschenkpapier zu wachsen schienen. Sie hatte sich damals über all diese Sachen gefreut. Und dann hatte sie jedes einzelne Teil vergessen. Genau wie sie vergessen hatte, dass Mama sie weggeworfen hatte. Doch nicht nur das: Sie hatte auch die paar Tage vergessen, in denen Birte und sie mit all den Sachen gespielt hatten. Und jetzt waren alle Erinnerungen wieder da.

Lotte wusste nicht, warum genau sie zu weinen begann. Aus Selbstmitleid, weil ihr vor Augen geführt wurde, dass sie ihrer Kindheit beraubt worden war? Aus Trauer über Birtes Tod? Aus Schock, weil sie alles verdrängt hatte? Sie nahm ihre Brille ab und sah alle Geschenke nur noch verschwommen und unscharf. Wie Präsente aus einer Geisterwelt. Was sie ja auch streng genommen sind, oder?
Sie setzte die Brille wieder auf und trat ans Fenster. Der Schneeregen war stärker geworden. Dicke Flocken und dünne Regentropfen flogen durch das Licht der Straßenlaternen. Das Haus gegenüber war nun komplett dunkel. Selbst der grell leuchtende Weihnachtsstern war ausgeschaltet. Es war beunruhigend, dass draußen alles normal zu sein schien, wo doch hier im Zimmer überhaupt nichts normal war.
„Magst du die Geschenke nicht?“ fragte plötzlich ein schwaches Stimmchen. Lotte glaubte zunächst, die Stimme sei nur in ihrem Kopf. Doch dann sagte sie energischer: „Hey! Ich habe dich etwas gefragt!“ Lotte wendete sich vom Fenster ab. Zwischen dem Weihnachtsbaum und den Geschenken stand ein Mädchen in einem weißen langen Kleid, das mit goldenen Sternen geschmückt war. Das Kind hatte gewelltes blondes Haar, weiße Haut und leicht gerötete Wangen. Das Christkind. Dachte Lotte. Der Plattenspieler spielte „Oh du Fröhliche“. Die Schatten der Weihnachtspyramide tanzten über die Decke, die Kerzen des Weihnachtsbaums flackerten nicht. Das Kind wirkte erhaben inmitten dieses Szenarios, als könnte es jeden Moment schwebend vom Boden abheben.


„Erkennst du mich nicht?“ fragte das Mädchen mit dem dünnen Stimmchen. Lottes Knie wurden weich, als ihr klar wurde, dass sie vergessen hatte, wie ihre Schwester aussah. Das Kind in dem Christkind-Kostüm war Birte.

Mittwoch, 18. Dezember 2013

Der gruseligste Adventskalender der Saison... #18

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TÜRCHEN 18

Am letzten Weihnachtsabend, den Birte noch erlebt hatte, hatten sie gemeinsam damit gespielt. Und schon eine Woche später musste Lotte hilflos zusehen, wie Mama das Puppenhaus in einem Müllsack verschwinden ließ. Papa schrie: „Lass das doch! Lass das doch! Beruhige dich!“ Als er versuchte, Mama den Müllsack zu entreißen, schlug sie ihn so feste in den Bauch, dass er sich keuchend krümmte und Lotte zu weinen begann. „Ich will nichts mehr von all diesem Zeug sehen! Nichts mehr! Verstehst du!“, schrie Mama und brachte den Müllsack mit dem Puppenhaus und allen anderen Weihnachtsgeschenken, die Birte und Lotte bekommen hatten, in den Hinterhof.
Lotte hatte das Puppenhaus vermisst. Doch irgendwie war es ihr logisch vorgekommen, dass für die Spielzeuge kein Platz mehr war, jetzt wo Birte weg war. In den Jahren danach hatte Lotte das Puppenhaus irgendwann vergessen. So wie all die anderen Sachen.

Lotte ahnte, was in den anderen Paketen zu finden sein würde, die sich jetzt in ihrer Studentenwohnung unter dem magischen (Magie war etwas beängstigendes und niemals so wie in den „Harry Potter“-Filmen) Weihnachtsbaum stapelten. Sie nahm ein weiches Paket. Das ist der Plüsch-Drache, den Birte geschenkt bekommen hat. Der verdammte Drache, den sie in der letzten Woche ihres Lebens immer unter dem Arm mit sich herum getragen hatte! Wie hatte Lotte den vergessen können! Sie riss das Papier ab. Es war der Drache. Wie hieß er noch, wie hieß er noch? WIE HIESS ER NOCH? Lotte dachte angestrengt nach, während sie dem süßen Vieh, das weit seinen Rachen aufgerissen hatte, in die großen gelben Comic-Augen starrte. Irgendwas seltsames. Er hatte irgendeinen verrückten Fantasienamen, den sich nur ein Kind ausdenken konnte. Quas… Kwas… Kwasitonk! Nein, das war es nicht. „Wie ist dein Name, kleiner Drache?“ fragte Lotte das Plüschtier in ihren Händen. Und als hätte der Drache telepathische Kräfte, fiel Lotte der Name ein: „Kwisitas heißt du!“ rief Lotte. „Kwisitas!“ Sie lachte und drückte das Tier fest an sich. Birte war damals gerade in der Übergangszeit gewesen, in der aus Gebrabbel strukturierte Laute wurden, aber noch keine sinnvollen Wörter. An Heiligabend hatte der Drache noch keinen Namen gehabt. Als Birte ihn am nächsten Tag mit zu Oma nahm, hatte sie gesagt: „Das ist aber ein schöner Dinosaurier.“
„Das ist ein Drache!“ hatte Lotte Oma verbessert.
„Oh, natürlich. Entschuldigung, Birte. Wie heißt denn dein Drache?“
Aus Birte war hervorgeschossen: „Kwisitas.“ Alle hatten gelacht. Und Oma hatte Birte zu der gelungenen Namenswahl beglückwünscht.

Lotte riss das Papier von weiteren Geschenken ab. Da war der Puppenwagen, den Birte von Oma bekommen hatte und dann Lottes Kinder-Koch-Set. Ein selbst gestrickter Pullover mit einer Prinzessin für Lotte, ein paar kleine Handschuhe für Birte. Eine Schneekugel und eine Packung Seifenblasen. Eine CD mit Kinderliedern, der neue Band von „Harry Potter“. „Der Gefangene von Askaban“ war damals neu und Mama hatte versprochen, ihn Lotte bald vorzulesen. Dazu kam es nicht, auch das Buch schmiss Mama später in den Müll. Doch über allen Geschenken thronte erhaben das Playmobil-Puppenhaus.

Dienstag, 17. Dezember 2013

Der gruseligste Adventskalender der Saison... #17

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TÜRCHEN 17

Lotte klappte den Laptop zu. Ihre verschwitzten Hände rutschten an der glatten Oberfläche des Macbooks ab. Sie zitterten so stark, als würde sich ein Fieberanfall ankündigen. Mit kampflustiger Miene begegnete Lotte der verrückten Situation, die sie an eine Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens erinnerte. „Also, ihr Geister. Zeigt ihr mir jetzt meine Vergangenheit und Zukunft?“ rief sie in den Raum hinein, doch es kam keine Antwort. Die Musik wechselte von „Stille Nacht“ zu „In dulci jublio“. Neben den vielen Geschenken entdeckte Lotte einen Plattenspieler, auf dem die Platte unter der Nadel rotierte. Auf dem Aufdruck in der Mitte waren Engel mit Trompeten und Mistelzweigen abgebildet. „Oh du Fröhliche – Die schönsten Weihnachtslieder“ stand darunter. Lotte musste lächeln. Das war die Schallplatte, die Oma immer am ersten Weihnachtstag aufgelegt hatte, wenn Mama und Papa mit Birte und ihr zur zweiten Bescherung am Weihnachtsmorgen gefahren waren. Nach Birtes Tod hatte es keine zweite Bescherung mehr gegeben. Im ersten Jahr war Weihnachten ausgefallen und dann waren die Großeltern immer an Heilig Abend zu Lotte und ihren Eltern gekommen. Die Platte war seitdem nicht mehr gespielt worden.

Lotte lächelte. Ein wohliges Gefühl machte sich in ihr breit. Sie realisierte, wie sehr sie diese Heimeligkeit, dieses Gefühl einer intakten Familie vermisst hatte. Intakt? Mama und Papa haben sich sehr oft gestritten, erinnerst du dich? Sagte eine Stimme in ihr. Ja, aber an Weihnachten war immer alles in Ordnung...
Lotte zog ein großes Paket zu sich heran. Sie wurde von der Neugier gepackt, was drin sein mochte. Eilig riss sie das Glanzpapier von dem großen Karton, unter dem ein Playmobil-Puppenhaus zum Vorschein kam. Lotte stockte der Atem. Sie liebte dieses Puppenhaus, in dem Playmobil-Figuren aus dem 19. Jahrhundert wohnten. Mit Badezimmer, Wohnzimmer, einer Küche – es gab sogar eine kleine Toilette. Sie hatte dieses Haus geliebt, war wie wild im Kreis gesprungen, als sie es vor 14 Jahren zum ersten Mal unter dem Weihnachtsbaum ausgepackt hatte. Birte hatte ihr bei ihrem Freudentanz völlig verblüfft zugesehen, hatte aber ebenso begeistert die Figuren bewundert, die Lotte aus dem Karton geholt hatte. Sorgfältig packte Lotte nun erneut den Karton aus. Alle Teile waren sorgfältig in Styropor eingeklemmt oder in Plastikfolien eingeschweißt. Alles war an Ort und Stelle.

Montag, 16. Dezember 2013

Der gruseligste Adventskalender der Saison... #16

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TÜRCHEN 16

Johanna Quandt und ihre ältere Schwester Mathilde schenkten sich wie jedes Jahr nach dem Weihnachtsessen zwei Gläser Pflaumenschnaps ein und prosteten sich zu. Die beiden Damen verbrachten seit unzähligen Jahren ihr Weihnachtsfest gemeinsam. Johannes Mann Herbert war bereits in den 60er Jahren an einem Herzinfarkt gestorben. Mathildes Carl war Herbert zwanzig Jahre später ins Jenseits gefolgt, nur dass sein Ticket Bauspeicheldrüsen-Krebs gewesen war. Und seit Mathildes Sohn Thomas mit seiner Familie in Amerika lebte, feierten die beiden ihr Weihnachten nur noch zu zweit. Thomas hatte sie schon oft eingeladen, in den USA mit der Familie zu feiern. Doch erstens mochten beide Damen das Fliegen nicht und zweitens konnten sie einer amerikanischen Weihnacht, die mehr mit Disneyland als mit der Geburt des Messias zu tun hatte, nichts abgewinnen. Sie saßen nach dem Kirchgang lieber zusammen in Johannas Wohnung, aßen Weihnachtsgans und tranken Pflaumenschnaps, während sie sich im Fernsehen einen Heimatfilm anschauten. In diesem Jahr passierte etwas unvorhergesehenes. Kaum hatte Johanna den Schnaps ausgeschenkt, klingelte das Telefon. „Da gehe ich nicht ran“, bellte sie. „Wie kann man die Leute an Heiligabend nur belästigen?“
„Wahrscheinlich nur, wenn es etwas wichtiges es. Gehe besser ran“, empfahl Mathilde. Johanna wartete kurz, ob es noch einmal klingeln würde, dann erhob sie sich seufzend und schlurfte zum Tischchen im Flur, auf dem ein Telefon mit Wählscheibe stand, das Johanna vor über 40 Jahren von der Post bekommen hatte. Sie hob ab. „Quandt.“

Im Nebenzimmer stellte Mathilde den Ton des Fernsehers leiser. Sie spitzte die Ohren, als sie ihre Schwester „Nun beruhigen Sie sich, Kindchen. Erzählen sie alles schön der Reihe nach. Wer sind Sie?“, sagen hörte.
„Anja Wagner. Ihre Mieterin“, sagte das aufgeregte Mädchen am Ende der Leitung.
„Und wie kann ich Ihnen helfen?“ fragte Johanna. „Ich dachte, Sie seien in München.“
„Bin ich auch. Aber meine Mitbewohnerin Charlotte Mertens, Sie erinnern sich…“
„Ich bin ja noch nicht dement. Was ist mit ihr? Sie sagten doch, dass Sie sie nach München mitnehmen würden über Weihnachten. Ich hatte Sie gefragt, als ich wegen der Nebenkosten bei Ihnen war. Sehen Sie mal, wie gut mein Gedächtnis ist.“
„Ja, das hatte ich vor“, antwortete Anja. Johanna hatte das Gefühl, das Mädchen würde jeden Moment zu weinen beginnen. „Aber sie ist in Köln geblieben – und jetzt geht es ihr nicht gut. Sie rief mich an und…“
„Ja, was denn?“
„Sie erzählte etwas von einem Geschenk, das plötzlich in der Wohnung war und in dem ein Zahn war oder so. Es hat irgend etwas mit ihrer toten Schwester zu tun.“
„Hören Sie, es ist Heiliger Abend und es ist sehr geschmacklos heute – oder überhaupt! – solche Scherze zu machen!“ schimpfte Johanna. Doch sie warf Mathilde einen besorgten Blick zu.
„Ich weiß, es klingt alles völlig verrückt. Darum glaube ich ja auch, dass es Charlotte nicht gut geht. Ich wäre beruhigt, wenn Sie nach ihr sehen würden.“
„Ich sage Ihnen, wenn das ein Scherz ist und Sie mich jetzt grundlos in die Nacht hinaus…“
„Nein, nein. Wenn Sie nicht gehen wollen, dann rufe ich die Polizei und…“
„Ha! Das fehlt mir noch. Polizei am Heiligen Abend in meinem Haus kann ich nicht gebrauchen. Haben Sie versucht, Ihre Freundin anzurufen?“
„Ja, unzählige Mal. Vor fünf Minuten noch. Aber sie hat wohl ihr Handy ausgeschaltet…“
Johanna seufzte. „Nun gut, ich werde nach dem Rechten sehen. Aber ich sagen Ihnen eins: Wenn das ein Scherz ist, dann sind Sie die längste Zeit meine Mieterin gewesen.“
„Es ist kein Scherz, es ist keiner! Vielen Dank für die Mühen, Frau Quandt! Vielen Dank! Und Frohe Weihnachten!“
„Die wünsche ich Ihnen auch“, verabschiedete sich Johanna und klang dabei überraschend mild.

Sie legte auf. Mathilde war bis in den Türrahmen gekommen. „Wir müssen zum Mietshaus fahren“, sagte Johanna. „Es ist ein Mädchen dort und hat gewisse Probleme.“
Mathilde schlug sich die Hand vor den Mund. Sie neigte zur Theatralik (und zur Tratscherei). „Ich dachte, du hättest dafür gesorgt, dass heute niemand dort ist.“
„Das dachte ich“, antwortete Johanna, schlurfte zur Garderobe und nahm ihren Mantel. Mathilde trank in einem Zug den Rest ihres Pflaumenschnapses aus.

Sonntag, 15. Dezember 2013

Der gruseligste Adventskalender der Saison... #15

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TÜRCHEN 15

Lottes Laptop stand noch unangetastet auf dem Wohnzimmer-Tischchen. Die Karte von Westeros, der Fantasy-Welt aus „Game of Thrones“, war zu sehen. Genau an der Stelle des Serien-Vorspanns, an der Lotte die Wiedergabe unterbrochen hatte. Trotz all der vielen funkelnden Lichter und Schatten im Raum, konnte Lotte den kleinen weißen Zahn sehen, der immer noch unweit der offenen Schatulle auf dem Parkett lag. Lotte war fassungslos. Niemals hätte jemand den Raum in kurzer Zeit so herrichten können. Niemand hätte all das Zeug, vor allem die riesengroße Tanne, unbemerkt in der Wohnung verstecken können. Das Christkind war durch Wände gekommen und hatte einfach so Geschenke gebracht.

Panik ergriff Lotte, die sie mit einem Mal äußerst schnell handeln ließ. Sie sah zur Küche rüber. Die Tür stand offen und Lotte konnte ihr Schlüsselbund sehen, das tatsächlich auf dem Küchentisch lag. Sie rannte in die Küche, stolperte fast, als sie zu gierig nach dem Schlüssel griff. Kaum hatte sie ihn, machte sie auf dem Absatz kehrt und hechtete ins Wohnzimmer zurück. PENG!  Die Tür zum Flur fiel krachend ins Schloss. Und da ist niemand! Sie ist von selbst zugefallen!

Lotte riss an der Klinke, doch das Schloss war fest verriegelt. Während sie zerrte, hörte sie, wie eine weitere Tür verschlossen wurde: Die, die zu Lottes und Anjas Zimmern führte. Irgendjemand (irgendetwas) drehte von außen den Schlüssel mehrmals im Schloss herum. Sie rannte zu der Tür, obwohl sie ahnte, dass jeder Versuch, sie zu öffnen, sinnlos sein würde. Die Tür saß so fest in ihren Angeln, dass Lotte beinahe glaubte, sie sei nur eine Kulissentür, die fest in die Wand gegossen war. Gedanken jagten hektisch durch ihren Kopf: Aus dem Fenster springen. Dritter Stock. Etwa zehn Meter. Asphalt. Sprungtuch. Feuerwehr rufen. Polizei. Mein Handy liegt im Flur. MEIN! HANDY! LIEGT! IM! FLUR!

Plötzlich hörte Lotte ein leises Knacken. Irgendwo legte sich eine Nadel in die Rille einer Schallplatte. Weiteres Knacken. Dann wurde der Raum von sanfter Musik durchdrungen: „Stille Nacht, heilige Nacht, alles schläft, Einsam wacht…“ Die Musik wirkte überraschenderweise beruhigend auf Lotte. Sie ließ die Türklinke los. Eine Ruhe, wie sie in Reiseberichten Menschen erleben, die von Schlangen gebissen werden und durch das Gift gelassen ihrem Tod entgegen sehen. Lotte wendete sich dem Weihnachtsbaum und den vielen Geschenken zu. Egal, ob das alles hier eingebildet war oder echt (Einbildungen verströmen keinen Tannenduft und werfen keine Schatten): Offensichtlich wurde ihr keine Wahl gelassen. Jemand (etwas) hatte ihr einen Heiligen Abend bereitet. Das Christkind war durch die Wände gekommen und hatte einfach so Geschenke dagelassen.

Samstag, 14. Dezember 2013

Der gruseligste Adventskalender der Saison... #14

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TÜRCHEN 14

Lotte war mucksmäuschenstill, als sie ihre in ihre Winterstiefel schlüpfte, ihren Mantel unter den Arm klemmte und ihre Handtasche nahm. Sie ging zur Wohnungstür und drückte die Klinke. Abgeschlossen. Lotte rappelte an der Tür. Doch, wirklich! Sie ist abgeschlossen! Lottes Blick wanderte zum Schlüsselbrett, doch kein Schlüssel hing daran. Sie durchwühlte ihre Handtasche: Handy, Schminkspiegel, Taschentücher, Tampons, ein Kugelschreiber. Kein Schlüssel. Sie klopfte ihren Mantel ab, doch es rasselte nicht, die Taschen waren leer.

Lotte ließ all ihre Sachen fallen, als das nächste Klingeln so laut wie eine kleine Kirchenglocke tönte. KLING KLING KLING KLING! Kinder, kommt herbei! Das Christkind war da!
Dann Stille. Lotte stand inmitten ihrer Sachen und starrte auf die Wohnzimmertür. Das hast du dir nur eingebildet. Das kann nicht sein. Du musst den Wohnungsschlüssel auf den Küchentisch gelegt haben. Manchmal machst du das. Du hast eine Panikattacke oder so gehabt. Aber jetzt ist alles gut. Du gehst in die Küche, nimmst den Schlüssel und verschwindest. Und du wirst sehen, dass hinter der Wohnzimmertür alles in Ordnung ist.
Lotte wusste nicht, wie viel Zeit sie verstreichen ließ. Ihr Atem beruhigte sich, das Klingeln kam nicht wieder. Und je länger Lotte in der Stille stand, umso überzeugter war sie, dass sie sich das Klingeln nur eingebildet hatte. Schließlich fasste sie sich ein Herz und ging energisch auf die Tür zu. Sie drückte die Klinke, stieß die Tür auf und stolperte wie ein Kind ins Zimmer, das es keine Sekunde länger erwarten kann, an seine Geschenke zu kommen. Nur hier würden keine Geschenke sein.

Lotte irrte sich. Als sie im Wohnzimmer zum Stehen kam, sah sie, dass das Christkind da gewesen war. Ein Weihnachtsbaum stand in der Zimmerecke und dominierte den ganzen Raum. Lametta, glitzernde Kugeln. Ein leuchtender Stern schmückten die breite und symmetrische Tanne und kratzte an die Zimmerdecke. Der Baum sah so perfekt aus, wie sonst nur die aus Plastik im Supermarkt. Doch dieser hier war echt. Tannenduft durchströmte den Raum so star, als würde der Baum schon seit Stunden hier stehen. Die brennenden Kerzen standen allesamt gerade und waren exakt lang, keine Flamme flackerte. Die Lichter reflektierten in den unzähligen Paketen, die in Glanzpapier gewickelt unter dem Baum lagen. Eine Weihnachtspyramide drehte sich in der Ecke, der Schatten ihres Propellers wanderte über die Zimmerdecke und sorgte für leichte Film Noir-Stimmung über all dem zauberhaften Lichterglanz.


Freitag, 13. Dezember 2013

Der gruseligste Adventskalender der Saison... #13

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TÜRCHEN 13

Lotte stützte sich auf die Kommode und starrte ihr Spiegelbild an. Sie hasste, was sie sah. Ein verschüchtertes Ding mit tränennassen Augen, beschlagenen Brillengläsern – und wunderschönen neuen Ohrringen. „Reiß dich zusammen!“ befahl Lotte dem Ding im Spiegel. „Da ist nichts im Wohnzimmer. Du hattest eine Vision oder so. Einen Tagtraum, der von der ganzen Scheiße kommt, die du in den letzten Jahren ertragen musstest.“ Ein kaputter Vater, der abgehauen und eventuell sogar tot war. Der niemals so stark war, sich mit dem Tod seiner jüngsten Tochter abzufinden. Eine alleingelassene Mutter, die gerade die Kraft aufbrachte, sich durch ihr Leben zu schleppen. Aber Lotte war nicht so wie ihre Eltern! Sie hatte alles zurückgelassen, um neu zu beginnen! „Du bist stark!“ beschwor sie ihr Spiegelbild. „Du bist stark!“
Sie würde jetzt ins Wohnzimmer gehen und feststellen, dass es da kein Geschenk, kein Glanzpapier und keinen Zahn gibt. Sie würde ihr Handy wieder einschalten, Anja zurückrufen und ihr sagen, dass sie sich keine Sorgen machen muss. Und dann würde sie wie geplant ein paar Folgen „Game of Thrones“ anschauen und sich darüber freuen, dass die Adelsfamilien in der Serie deutlich verdorbener und kaputter waren als ihre eigene.

Lotte wendete sich von ihrem Spiegelbild ab und trat auf die Wohnzimmertür zu. In diesem Moment erklang ein zaghaftes Klingeln, das Lotte durch Mark und Bein fuhr. Es war ein Klingeln aus einer längst vergangenen Zeit. Aus einer Zeit, in der noch alles gut war. Es war das leise Schellen, das immer aus dem Zimmer gekommen war, nachdem das Christkind alles vorbereitet hatte und einfach so Geschenke niedergelegt hatte. Mama hatte dann die Tür geöffnet und gerufen: „Das Christkind war da!“ Und Lotte war ganz vorsichtig ins Zimmer getreten, hatte sich ein wenig gegruselt, weil das Christkind ja durch Wände gehen konnte und hatte sich dann vom Weihnachtsbaum und den Geschenken überwältigen lassen.

Nein, dieses Klingeln kannst du gerade nicht gehört haben. Dachte Lotte. Doch als hätte jemand im Zimmer nebenan ihre Gedanken gelesen, klingelte es erneut leise – wenn auch nicht mehr ganz so zaghaft wie beim ersten Mal. Lotte ging vorsichtig ein paar Schritte zurück zur Wohnungstür. Du bist nicht verrückt. Da hat jemand geklingelt. Im Wohnzimmer ist jemand und klingelt. Der selbe jemand, der auch das Geschenk mit dem Schneidezahn abgelegt hat. Er muss sich irgendwo versteckt haben. In Anjas Zimmer oder in deinem. Und als du in der Küche und auf der Toilette warst, hat er das Geschenk abgelegt. Und jetzt steht er im Wohnzimmer und klingelt…Lottes Stimme zitterte. Ihre Hand wurde schweißnass, so dass sie glaube, ihr würde jeden Moment das Telefon entgleiten. „Da… Da war ein Päckchen im Wohnzimmer. Mit Glanzpapier. Ich dachte, es wäre von dir. Und darin war ein Kästchen. Mit einem Schneidezahn drin.“ In dem Moment traten Tränen in Lottes Augen. „Das hat mir Angst gemacht, Anja. Das ist nicht lustig.“
„Lotte, in unserer Wohnung war seit Tagen niemand mehr außer dir und mir. Außer du hast heimlich Typen mit nach Hause gebracht, ohne dass ich etwas davon mitbekommen habe.“
„Nein... Natürlich nicht.“
„Und ich schwöre dir, dass ich kein Päckchen zurückgelassen habe. Ich wolle dir etwas kaufen, aber du hast so bestimmt gesagt, dass du absolut gar nichts von Heiligabend wissen willst, da habe ich es gelassen. Und wenn schon, warum sollte ich dir einen Zahn schenken? Hältst du mich für pervers.“
„Nein... Ich weiß nicht. Weil ich dir erzählt habe, dass ich als Kind meiner Schwester mal einen ausgeschlagen habe… Das klingt bescheuert, aber…“
„Das hast du mir nie erzählt. Sprichst du von deiner Schwester, die gestorben ist?“
„Ja, von Birte.“
„Lotte, jetzt höre mir bitte zu. Ich glaube, dass es nicht gut ist, dass du alleine bist. Bitte gehe irgendwo hin.“
„Nein, mir geht es gut, ich…“
„Falls es stimmt, was du sagst, geht es dir entweder nicht gut oder es ist irgendein stranger Typ am Werk, der… Ach, ehrlich gesagt glaube ich, es geht dir nicht gut. Geh zu Frau Quandt. Du weißt doch, wo sie wohnt.“

Lotte schluchzte unvermittelt. Anja hielt sie für verrückt! Frau Quandt würde sie auch für verrückt halten. Und dann würde sie ihre Wohnung verlieren. Dann würden alle denken, dass sie alleine nichts geregelt bekommen würde, weil sie aus einer schwierigen Familie kommt und dann… „Es ist schon gut. Danke! Frohe Weihnachten!“, sagte Lotte schnell und legt auf. Kaum zwei Sekunden später kam ein Rückruf von Anja. Doch Lotte hielt den Power-Knopf des Smartphones so lange gedrückt, bis es still wurde und das Display erlosch.


Donnerstag, 12. Dezember 2013

Der gruseligste Adventskalender der Saison... #12

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TÜRCHEN 12

Lotte wendete ihren Blick endlich von dem Zahn ab und schloss die Wohnzimmertür hinter sich. Sie atmete ein paar Mal tief durch und glaubte, den Schock verdaut zu haben. Zum Beweis warf sie ihrem Spiegelbild ein Lächeln zu, bevor sie ihr Handy aus ihrer Handtasche fischte. Ihre Hand zitterte so sehr, dass Lotte länger als gewöhnlich brauchte, um Anjas Namen in der Kontaktliste zu finden. Sie lehnt sich so entspannt wie möglich an die Kommode unter dem Spiegel, während sie das Freizeichen hörte. Bitte nicht die Mailbo… „Lottchen, was ist los?“
„Hi Anja. Ich hoffe, ich störe nicht.“
„Es ist Heiligabend, gleich gibt es Essen, ich packe gerade ein paar Geschenke aus. Wobei solltest du stören? Scherz! Ich bin nur ran gegangen, weil dein Name im Display war.“
„Tut mir leid. Ich wollte mich nur für das Geschenk bedanken. Und… Es ist doch von dir, oder? Der Schneidezahn.“
„Ähm… Wovon redest du?“
Lottes Knie wurden weich. „Komm, jetzt mach keinen Blödsinn. Du hast doch das kleine Päckchen im Wohnzimmer zurückgelassen.“
„Nein. Wirklich nicht. Was für ein Päckchen?“
Lottes Stimme zitterte. Ihre Hand wurde schweißnass, so dass sie glaube, ihr würde jeden Moment das Telefon entgleiten. „Da… Da war ein Päckchen im Wohnzimmer. Mit Glanzpapier. Ich dachte, es wäre von dir. Und darin war ein Kästchen. Mit einem Schneidezahn drin.“ In dem Moment traten Tränen in Lottes Augen. „Das hat mir Angst gemacht, Anja. Das ist nicht lustig.“
„Lotte, in unserer Wohnung war seit Tagen niemand mehr außer dir und mir. Außer du hast heimlich Typen mit nach Hause gebracht, ohne dass ich etwas davon mitbekommen habe.“
„Nein... Natürlich nicht.“
„Und ich schwöre dir, dass ich kein Päckchen zurückgelassen habe. Ich wolle dir etwas kaufen, aber du hast so bestimmt gesagt, dass du absolut gar nichts von Heiligabend wissen willst, da habe ich es gelassen. Und wenn schon, warum sollte ich dir einen Zahn schenken? Hältst du mich für pervers.“
„Nein... Ich weiß nicht. Weil ich dir erzählt habe, dass ich als Kind meiner Schwester mal einen ausgeschlagen habe… Das klingt bescheuert, aber…“
„Das hast du mir nie erzählt. Sprichst du von deiner Schwester, die gestorben ist?“
„Ja, von Birte.“
„Lotte, jetzt höre mir bitte zu. Ich glaube, dass es nicht gut ist, dass du alleine bist. Bitte gehe irgendwo hin.“
„Nein, mir geht es gut, ich…“
„Falls es stimmt, was du sagst, geht es dir entweder nicht gut oder es ist irgendein stranger Typ am Werk, der… Ach, ehrlich gesagt glaube ich, es geht dir nicht gut. Geh zu Frau Quandt. Du weißt doch, wo sie wohnt.“

Lotte schluchzte unvermittelt. Anja hielt sie für verrückt! Frau Quandt würde sie auch für verrückt halten. Und dann würde sie ihre Wohnung verlieren. Dann würden alle denken, dass sie alleine nichts geregelt bekommen würde, weil sie aus einer schwierigen Familie kommt und dann… „Es ist schon gut. Danke! Frohe Weihnachten!“, sagte Lotte schnell und legt auf. Kaum zwei Sekunden später kam ein Rückruf von Anja. Doch Lotte hielt den Power-Knopf des Smartphones so lange gedrückt, bis es still wurde und das Display erlosch.

Mittwoch, 11. Dezember 2013

Der gruseligste Adventskalender der Saison... #11

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TÜRCHEN 11

Und jetzt lag genau dieser Zahn hier im Wohnzimmer. Unsinn, es kann nicht derselbe Zahn sein. Dachte Lotte, während sie ein paar Schritte zurück machte, ohne den Zahn aus den Augen zu verlieren. Als sei er ein kleines Monster, das sie anfallen und sich in sie hineinfressen könnte. Wie das schlechte Gewissen, das sie hatte, wenn sie an die längst vergangene Sandkasten-Episode zurückdachte. Habe ich Anja erzählt, wie ich Birte einmal den Zahn ausgeschlagen habe? Spielt sie mir jetzt einen seltsamen Streich? Ha! Das wäre ein völlig verrückter Streich. Und einer, der überhaupt nicht lustig ist! Lotte erreichte die Wohnzimmertür und ging vorsichtig in den Flur. Wahrscheinlich hatte sie die Geschichte tatsächlich einmal erzählt. Auf der WG-Party vielleicht, zu der Anja sie vor zwei Monaten mitgenommen hatte? 

Lotte hatte auf der Party mehr getrunken als sie gewöhnt war und versucht, fröhlich zu wirken. Sie musste die Geschichte erzählt haben, als es darum ging, Anekdoten auszutauschen, welche Gräueltaten man seinen Geschwistern angetan hatte, als man noch klein war. Das taten Leute doch. „Ich habe meine Schwester damals so sehr gehasst, dass ich all ihre Poster zerrissen habe“, „Das ist ja gar nichts, mein Bruder und ich haben uns damals so sehr gehasst, dass ich ihn absichtlich im Schwimmbad untergetaucht habe. Ich schwöre, wenn meine Mutter nicht dazwischen gegangen wäre, wäre er ertrunken.“

Die Geschichten wurden so erzählt, als würde man mit ihnen beweisen, dass die Geschwisterliebe größer und inniger ist, je härter man sich früher gestritten hat. Da musste Lotte in der Party-Runde erzählt haben: „Meine Schwester und ich haben uns so sehr gehasst, dass ich ihr einmal einen Zahn ausgeschlagen habe.“ Es hatte gut getan, das so zu erzählen, überhaupt mal wieder von Birte zu erzählen. Ja, so musste es gewesen sein. Ich glaube, so war es tatsächlich. Und Anja hat die Story gehört und spielt mir jetzt einen Streich, weil ich Weihnachten nicht feiern will. Ein Anti-Weihnachtsgeschenk für die Anti-Weihnachts-Lotte. Das war die schlüssigste Erklärung. Lotte würde Anja anrufen, über den Witz lachen und sie dann neugierig fragen, wo sie einen Kinderzahn aufgetrieben hatte. Nicht einen Kinderzahn. Es ist Birtes Zahn!


Dienstag, 10. Dezember 2013

Der gruseligste Adventskalender der Saison... #10

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TÜRCHEN 10

Eins… Zwei… Drei… Lotte starrte drei Sekunden lang in die Schatulle ohne einen einzigen Gedanken zu haben. Dann raste ein Impuls durch ihren Kopf. Weg damit! Weg damit! Lotte stieß die Schatulle von sich, so als sei sie ein Basketball, den sie an eine Mitspielerin passen müsste. Sie hatte drei Jahre lang Center in der Mädchenmannschaft des Gymnasiums gespielt. Hier hatte sie ein paar wenige Freundinnen gehabt in den einsamen Jahren, die auf das Verschwinden ihres Vaters folgten. Und jetzt sollte dieses Kästchen verschwinden! Während es in einem eleganten Bogen durchs Zimmer flog, hatte Lotte tatsächlich kurz die Hoffnung, es würde sich einfach in Luft auflösen – auf die gleiche Art, wie es ins Zimmer gekommen war.

Doch das Kästchen prallte an der dünnen Trennwand zur Nachbarwohnung ab und schlug auf dem Boden auf. Natürlich tut es das. Es ist ja auch nicht einfach aus dem Nichts aufgetaucht, irgendwer – ANJA! – hat es hier hingelegt. Der Deckel der kleinen Schatulle riss ab und mit leisem Klick-Klick-Klick purzelte der Schneidezahn aus dem Kästchen über den Parkett-Boden. Er war so klein, dass jemand, der ins Zimmer gekommen wäre, ihn nicht gesehen hätte. Doch Lotte sah den Zahn. Strahlend weiß wie eine kostbare Perle lag er wenige Meter von ihr entfernt zwischen Sessel und Tischchen. Er erinnerte sie daran, wie sie mit Birte einmal im Sandkasten auf einem Spielplatz gesessen hatte. Lotte hatte einen Sandkuchen gebacken. Und Birte, gerade einmal zwei Jahre alt, hatte sich mitten reingesetzt, ehe Mama kommen konnte, um den Kuchen zu bewundern. Lotte hatte ihre Schwester geschlagen. Sie erinnerte sich an Blut und unerträgliches Geschrei. Sie erinnerte sich, dass das Schreien eine Genugtuung gewesen war, bis Mama gekommen war und Birtes Zahn aus dem Sand gepuhlt hatte. Dann hatte Lotte plötzlich auch weinen müssen – erschreckt über ihre eigene Brutalität. Und über die Tatsache, dass es Konsequenzen hatte, wenn man impulsiv handelte.

Montag, 9. Dezember 2013

Der gruseligste Adventskalender der Saison... #9

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TÜRCHEN 9

Jetzt, als sie die Nudeln in sich hinein schaufelte und sich über einen Server in Tonga nach Westeros teleportierten ließ, fühlte sich Lotte zum ersten Mal, seit sie in Köln war, wirklich befreit. Alle mussten mit ihren Familien Weihnachten feiern. Nur ich bin frei! Ich habe keine Familie mehr! 
Lotte sprang mit federndem Schritt in die Küche, als sie nach der ersten „Game of Thrones“-Folge ihren leeren Teller zum Spülbecken brachte. Sie ging ins Bad und pinkelte, betrachtete beim Händewaschen noch einmal stolz ihre neuen Ohrringe, die nicht zum Schlabberlook passten, die sie aber heute unbedingt tragen wolle. Zurück im Wohnzimmer ließ sich Lotte auf den Sessel fallen und startete die nächste Folge. Der Ladekreis drehte sich stoisch, während eine illegale Verbindung zum Server in Tonga aufgebaut wurde. Und während er sich drehte, fiel Lottes Blick auf ein Päckchen in der Ecke des Zimmers. Es war in goldenes Glanzpapier gewickelt und mit einer großen roten Schleife verziert. Obwohl es nur sehr klein war, war das Päckchen so auffällig verpackt, dass Lotte sich wunderte, es nicht schon früher bemerkt zu haben. Es war doch eben noch nicht da? Muss es wohl… Dachte sie. Irgendwo tief in ihr flüsterte eine Stimme, die Lotte kaum hören konnte (wollte). Das Christkind geht unbemerkt durch Wände und legt einfach so Geschenk nieder.

Neugierig ging Lotte zu dem Paket, das gleich zwischen Sofa und Fernseher stand und betrachtete es zunächst mit leichtem Sicherheitsabstand, so als könnte es explodieren, wenn sie ihm zu nahe käme. Das Deckenlicht spiegelte sich darin, so dass das Paket wie ein kleiner Goldbarren aussah. Lotte hatte Anja mehrmals gesagt, dass sie absolut nichts Weihnachtliches an Heiligabend gebrauchen konnte. Aber es sah Anja ähnlich, dass sie sich über Lottes Wunsch hinweg gesetzt und doch eine Überraschung zurückgelassen hatte. Eine andere Erklärung gibt es nicht. Eine Erklärung, warum du das Paket so lange nicht sehen konntest, obwohl es auffällig hell glänzt, gibt es allerdings auch nicht.

Lotte näherte sich vorsichtig und hob das Paket hoch. In dem Moment erklang ein tönender Tusch! Lotte ließ das Päckchen fallen, fing es aber mit wedelnden Armen wieder auf. Der Tusch gehört zum schmissigen Beginn der „Game of Thrones“-Titelmelodie. Die Verbindung nach Tonga stand also. Lotte wickelte vorsichtig die rote Schleife vom Paket und zog den Tesafilm ab, der sich sehr leicht vom glatten Lackpapier lösen ließ. Die Titelmelodie der Fantasy-Serie gab dem Auspacken eine absurde Dramatik.

Lotte drückte die Space-Taste auf ihrem Laptop und sorgte für Ruhe. Unter dem Papier war ein graues Kästchen zum Vorschein gekommen – eines, in dem normalerweise Ohrringe oder Armbänder aufbewahrt werden. Normalerweise, dachte Lotte, weil sie ahnte, dass keine Ohrringe darin sein würden. Lotte hob vorsichtig den Deckel vom Kästchen. Es war mit synthetischer Watte ausgefüllt. Lotte musste etwas davon abziehen, um das Schmuckstück im Inneren des Kästchens zu enthüllen. Sie spürte, wie ein Ziehen durch ihre Haarwurzeln und dann ihren Nacken hinab flüchtete. In dem Kästchen lag umhüllt von Watte ein winzig kleiner Schneidezahn.

Sonntag, 8. Dezember 2013

Der gruseligste Adventskalender der Saison... #8

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TÜRCHEN 8


Lotte hatte die Beine an sich heran gezogen und den Teller mit den Nudeln zwischen die Knie geklemmt. Sie trug ihre Frottee-Hose mit der Maus und dem kleinen blauen Elefanten darauf. Dazu dicke Socken, die Oma vor einigen Jahren gestrickt hatte. In diesem Kuschel-Outfit kuschelte sie sich auf den Kuschelsessel, den Anja und sie zwei Wochen nachdem Lotte eingezogen war, auf der Straße gefunden hatten. Das Ikea-Sofa, das dem Sessel vor dem zu alten Röhren-Fernseher Gesellschaft leistete, hatte Anja vor über einem Jahr bei ihrem eigenen Umzug aus ihrem Kinderzimmer mitgebracht. Der Fernseher war aus, Lotte hatte ihr Macbook auf den kleinen Wohnzimmertisch gestellt, der das Wohnzimmer-Mobiliar komplett machte. Obwohl das Zimmer nicht sehr groß war, wirkte es mit den wenigen Möbel beinahe wie ein kleiner Ballsaal. Die Decken der Altbau-Wohnung waren deutlich über drei Meter hoch und mit Stuck verziert. In der Küche nebenan gab es keinen Stuck, da hier im Krieg eine Bombe durch die Decken gerauscht war. Auch die verschlungenen Rosen, die der Stuck an der Wohnzimmerdecke darstellte, waren zum Teil quer durch ihre weißen Gips-Blüten zerteilt worden. Eine dünne Wand teilte seit den 70er Jahren die ehemalige Großstadtwohnung aus dem frühen 20. Jahrhundert in zwei vermietbare Wohnungen ein. Die Vermieterin Frau Quandt („Ich habe nichts mit denen von BMW zu tun, glauben Sie ja nicht, dass ich reich bin!“) war fast 80 Jahre alt und stolz darauf, die Enkelin des ersten Besitzer des Hauses zu sein. („Mein Großvater lebte hier noch mit Personal, aber glauben Sie ja nicht, dass ich reich bin! Ist alles weg seit der Wirtschaftskrise. Also der aus den 20ern, die von heute kann man ja kaum so nennen. So lange die Leute noch Videospiele und all diesen Unsinn kaufen können, hamwer auch noch keine Krise.“) 

Frau Quandt hatte Lotte erzählt, dass sie genau darauf achtet, nur ordentliche Leute ins Haus zu holen, das ja einen Ruf zu verlieren hätte. Sie hatte wohl erwartet, Lotte wäre stolz, wenn sie indirekt erfahren würde, dass sie unter die Kategorie „ordentliche Leute“ fällt. Ob Mama mich da auch einsortieren würde? Frau Quandt hatte auch erzählt, wie sehr es damals geschmerzt hätte, die prächtigen Wohnungen mit Wänden zu durchtrennen. „Aber was will man machen, kriegt ja so große Wohnungen heute nicht mehr vermietet“, sie hatte mit einem krächzenden Lachen hinzugefügt: „Früher war vielleicht Wirtschaftskrise, aber gut gelebt hammse.“ Lotte hatte die abstruse Aussage unkommentiert gelassen, schließlich wollte sie nicht, dass Frau Quandt sie wieder aus der „Ordentliche Leute“-Akte nahm. Sie hatte unbedingt in dieser Wohnung wohnen wollen, die einem alten Schmuckkästchen gleichkam, in dem schon viele Kostbarkeiten aufbewahrt worden waren – und eventuell auch ein paar, die es nicht wert gewesen waren, aufbewahrt zu werden. Hier kann ich mich zu Hause fühlen. Hatte Lotte bei ihrer Führung durch die Wohnung gedacht, während der Anja mit Frau Quandt flirtete und betonte, dass sie ihr Zimmer nicht aufgeräumt hätte, obwohl es sich als absolut geleckt herausstellte. (Das war das letzte Mal gewesen, dass Lotte das Zimmer so ordentlich und unverqualmt gesehen hatte, aber Anja klärte Lotte schnell darüber auf, dass man Frau Quandt immer den Eindruck vermitteln musste, man könne jederzeit seine drei Ave Maria aufsagen.)

Anja und Lotte hatten gleich große Zimmer und teilten sich das spartanisch eingerichtete Wohnzimmer. Lottes Zimmer war ähnlich spartanisch. Sie war mit einem Rollkoffer voll Klamotten nach Köln gekommen, aus ihrem alten Zimmer wollte sie nichts mehr bei sich haben. Ein Regal, Schreibtisch und -stuhl und ein Lattenrost mit Matratze hatte sie sich leisten können, dann war fast ihr gesamtes Startkapital (das meiste waren Ersparnisse von einem Platzanweiser-Job im Kino) aufgebraucht gewesen. Lotte wollte nichts um sich herum haben, was sie an Mama, Papa und (Birte) ihre Kindheit erinnerte. Köln sollte ein Neubeginn sein. Anja dagegen hatte quasi ihr gesamtes Kinderzimmer von Bayern nach Köln exportiert. Inklusive eines riesigen Lebkuchen-Herzens, das ihr Freund Dennis auf einem Oktoberfest gekauft hatte. Und auf dem natürlich „I moag di“ stand. Dennis war in Bayern geblieben und Anja versuchte, ihn an jedem Wochenende zu sehen. Der Draht in die Heimat wurde so oft wie möglich genutzt, während Lotte alles mögliche tat, ihn zu durchtrennen.

Samstag, 7. Dezember 2013

Der gruseligste Adventskalender der Saison... #7

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TÜRCHEN 7

Die nächsten Weihnachtsfeste feierte Lotte mit Mama und Oma gemeinsam. Sie gingen gemeinsam in die Kirche und besuchten anschließend Birtes Grab. Auf dem Grabstein war ein Baum mit einer mächtigen lebendigen Krone abgebildet. Nicht explizit christliches. Weder Mama noch Oma weinten noch, wenn sie ans Grab kamen. Oma fand immer ein Paar Blätter und Knospen, die sie aus dem Beet picken konnte, Mama starrte ausdruckslos auf den Grabstein. Und Lotte wünschte sich, dass der nächste Akt dieses Schauspiels endlich beginnen würde. Der bestand aus Fondue mit Brühe – wobei die drei Fleischspieße recht kläglich im großen Topf aussahen. Während des Essens versuchten alle, nicht über Papa oder Birte zu sprechen, obwohl beide immer wie Geister im Raum zu sein schienen. Mama erzählte ihrer Mutter dann immer, dass sie keine Lust mehr hätte, als Versicherungskauffrau zu arbeiten und sich bald etwas neues suchen wollte. Oma antwortete immer, dass es doch zu spät sei, noch was neues zu beginnen. „Was willst du einmal machen, Lotte?“ fragte sie dann. Und Lotte sagte „Etwas in Richtung Naturwissenschaft.“
Mama fügte dann gerne hinzu: „Sie ist viel begabter in diesen Dingen als ich.“ Sie warf Lotte dann einen Blick zu, der keinen Stolz vermittelte sondern: Du bist schuld, dass dieses Fest so trostlos ist. Du bist Schuld, dass sich unsere Familie aufgelöst hat.
Oma erlebte den Tag, an dem sich Lotte an der Universität Köln einschrieb, nicht mehr mit. Sie starb mit 86 Jahren an einem plötzlichen Hirnschlag. Wenige Wochen später zog Lotte nach Köln. „Mach‘s gut“, sagte Mama am Bahnhof. Zum ersten Mal hatte Lotte das Gefühl, dass der Vorwurf, für den Zerfall der Familie verantwortlich zu sein, nicht in ihrer Stimme mitschwang. Sie war von der Last befreit, nicht mehr so tun zu müssen, als würde sie mit ihrer Mutter noch irgend etwas verbinden. Lotte glaubte, dass es ihr ähnlich ging.

In Köln angekommen, meldete sich Lotte nicht bei ihrer Mutter. Erst, nachdem sie ein paar Wochen später einen neuen Handyvertrag abgeschlossen hatte, entschloss sie sich, Mama ihre neue Nummer per E-Mail zu schicken. Mama rief nicht an. Lotte ließ ein paar Tage vergehen und versuchte dann, Mama anzurufen. Sie ging nicht ran, worüber Lotte sehr erleichtert war. Es gab keinen Rückruf. Vor einer Woche hatte Lotte ein letztes Mal versucht, Mama anzurufen. Wieder war sie nicht rangegangen. Also hatte Lotte eine E-Mail geschrieben:

Liebe Mama,

da Du Dich nicht bei mir meldest, glaube ich, dass wir in diesem Jahr nicht Weihnachten miteinander feiern werden? Du empfindest das wahrscheinlich als genauso große Erleichterung wie ich. Das soll nicht bedeuten, dass ich wütend auf Dich bin – ganz im Gegenteil. Ich merke, dass der Abstand gut tut und hilft, die Dinge zu verarbeiten, die sich in den letzten Jahren (nicht nur zwischen uns) aufgestaut hatten. Ich hoffe, es geht Dir ähnlich!

Ich wünsche Dir frohe Weihnachten!

Deine 
Charlotte


Es war keine Antwort auf die Mail gekommen. Doch Lotte stellte fest, dass sie weder traurig, noch empört darüber war. Sie fühlte nur unendliche Erleichterung, dass sie in diesem Jahr kein Weihnachtsfest feiern musste, kein Schauspiel spielen musste. Sie nahm sich fest vor, Weihnachten in diesem Jahr ausfallen zu lassen – egal wie energisch Anja darauf bestehen würde, dass Lotte mit zu ihrer Familie kommen müsste.

Freitag, 6. Dezember 2013

Der gruseligste Adventskalender der Saison... #6

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TÜRCHEN 6


Lotte ließ heißes Wasser in den Topf laufen, während sie aus dem Küchenfenster schaute. Obwohl es noch früh am Abend war, war es draußen bereits dunkel geworden. Dünne Fäden, die weder als Regen noch als Schnee zu identifizieren waren, zogen in gleichmäßigen Bahnen durch das Licht der Straßenlaternen. Im Haus gegenüber waren die meisten Lichter erloschen. Ein sicheres Zeichen, dass in den Wohnungen Studenten lebten, die heute zum Weihnachtsbesuch nach Hause gefahren waren, um das erste vernünftige Essen seit Wochen (oder Monaten) zu bekommen. Nur ein Fenster wurde von einem bunten blinkenden Weihnachtsstern erhellt. Dass alle anderen Fenster ungeschmückt waren, deutete ebenfalls auf Studenten hin. Mit Anfang 20 legt man keinen Wert auf Weihnachtsschmuck in der eigenen Wohnung, besteht aber auf welchen im Elternhaus. Weihnachtsschmuck hängt nur da, wo man sich zu Hause fühlt. Dachte Lotte. Sie drehte das Wasser ab und stellte den Topf auf den Herd. Mit Anfang 20 hat man das Elternhaus verlassen, lebt aber noch in einer Übergangsstation, die nicht heimelig sein soll. Nur bei mir ist es genau anders herum.

Spätestens seit Papa plötzlich spurlos verschwunden war, hatte sich Lotte zu Hause nicht mehr heimisch gefühlt. Nur wenige Woche nach ihrem Besuch in der Klinik hatte Mama einen Anruf bekommen.
„Was hat er zu dir gesagt, als du bei ihm warst?“ fragte Mama, nachdem sie Lotte erklärt hatte, dass Papa in der Nacht aus der Klink getürmt war. Er war vom Balkon aus dem ersten Stock gesprungen. Die ungleichmäßigen Fußspuren im Kies verrieten, dass er sich dabei den Knöchel verstaucht hatte.
„Nichts“, antwortete Lotte. „Nichts konkretes.“
„Was soll das heißen?“ Es war offensichtlich, dass Mama glaubte, Lotte würde ihr etwas verheimlichen. Sie saß ihr am Küchentisch gegenüber wie bei einem Kreuzverhör.
„Er hat höchstens Andeutungen gemacht.“
„Was hat er angedeutet?“
„Dass wir uns das letzte Mal sehen…“
„Und das sagst du mir jetzt erst?“ In Mamas Stimme schwang ein Vorwurf mit, der in Lotte eine ähnliche Wut wie vor wenigen Wochen in der Ent-Zugs-Klinik auslöste: Du bist Schuld, dass sich unsere Familie auflöst.
„Du hast doch gesagt, dass du nichts mehr von ihm wissen willst! Warum willst du jetzt so dringend alles wissen!“ schrie Lotte, sprang auf und riss dabei ihren Küchenstuhl um. Polternd fiel er mit der Lehne voran auf die Fliesen. Auf Mamas Stirn bildete sich eine Wutfalte. Sie sprang ebenfalls auf und stieß ihren Stuhl um – ganz offensichtlich äffte sie Lotte nach, als wäre sie ihr älteres aber ebenso wütendes Spiegelbild. Sie äffte sie nach, um zu demonstrieren, dass sie Lottes Wut nicht im entferntesten ernst nehmen wollte. Sie äffte Lotte nach, weil sie keine Argumente hatte. Sie konnte den Vorwurf Du bist Schuld, dass sich unsere Familie auflöst subtil vermitteln, ihn aber nicht begründen. Und darum musste sie einen Machtkampf spielen. So jedenfalls interpretierte Lotte den Streit im Nachhinein.

Donnerstag, 5. Dezember 2013

Der gruseligste Adventskalender der Saison... #5

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TÜRCHEN 5

„Herr Mertens, Ihre Tochter ist gekommen“, sagte die Frau im weißen Kittel und warf Lotte einen aufmunternden Blick zu, der sie aber nicht dazu bewegen konnte, näher an ihren Vater heran zu treten. Herr Joachim Mertens blickte auf, doch Lotte konnte den Blick nicht erwidern. Ihre Aufmerksamkeit war auf die Bandagen an Papas Handgelenken gerichtet. Selbstmordversuch. Das Wort schoss Lotto mit der Wucht eines Vorschlaghammers in den Kopf. Sie ertappte sich dabei, wie sie das Wort sofort in seine einzelnen Silben zerlegte. Selbst-Mord-Ver-Such. In der Ent-Zugs-Klinik. „Hallo Lottchen“, sagte Herr Joachim Mertens. Es erschreckte Lotte beinahe, dass der Mann Papas Stimme hatte. Sie ging auf ihn zu, während der Mann am Nebentisch belehrt wurde, dass er jetzt Rot und nicht mehr Grün zu spielen hätte. Lotte beugte sich vor und drückte ihrem Vater einen Kuss auf die Stirn. Er roch nicht wie Papa. „Habe ich dir mitgebracht“, sagte sie, während sie ihm die herabhängenden Blumen hinhielt. Die Frau im Kittel nahm sie eilig ab, murmelte einen Satz mit „Vase“ und verließ das Zimmer.

Lotte setzte sich. Sie zwang sich, nicht auf die Bandagen an den Handgelenken zu starren  und hob ihren Blick, um ihrem Vater in die Augen zu schauen. Doch seine Augen sahen nicht zurück. Nervös zuckten sie von einer Seite zur anderen. Der dreizehnjährige Lotte wurde klar, dass sie Mitleid empfinden sollte mit dem Mann, der ihr Vater sein sollte aber stattdessen nur ein Fall von Selbst-Mord-Ver-Such in einer Ent-Zugs-Klinik war. Ihr Körper rebellierte gegen die Situation, ihre Hände begannen zu zittern und Lotte versteckte sie unter der Tischplatte. „Wie geht es dir?“ fragte sie und dachte Ich sollte das nicht fragen. Doch ihre Frage sorgte dafür, dass Papas Augen plötzlich still hielten und sie fixierten. „Danke, dass du gekommen bist“, sagte er. „Deine Mutter will mich sicher nicht mehr sehen.“
„Ja.“
„Sie hat recht. Du hättest auch nicht kommen sollen.“
„Warum?“
Die Antwort überraschte Lotte: „Weil ich dir nichts vormachen kann, Lottchen. Niemand kann dir etwas vormachen. Ich habe versucht mich umzubringen. Es kommt manchmal vor – wahrscheinlich öfter, als man denkt – dass sich dreizehnjährige Mädchen in die Arme schneiden. Leute die sich selbst verletzen, wollen Aufmerksamkeit. Und bei Teenagern ist das in Ordnung. Sie brauchen Aufmerksamkeit. Sie brauchen Menschen, die ihnen sagen, dass die Welt nicht so schlimm ist, wie sie vielleicht glauben. Doch in unserer Familie ist einiges schief gelaufen. Und darum sitzt du jetzt hier deinem Vater gegenüber, der sich in die Arme geschnitten hat. Aber ein dreizehnjähriges Mädchen kann einem erwachsenen Mann nicht sagen, dass die Welt nicht schlimm ist.“
„UNO!“ brüllte der Mann am Nebentisch, um laut Spielregel seinen Sieg zu verkünden. Doch seine Mitspielerin belehrte ihn, dass er nicht gewinnen kann, indem er eine Karte spielt, die nicht der Trumpf-Farbe entspricht.
„Warum hast du das gemacht?“ fragte Lotte. Sie streckte die Hand nach den Bandagen aus, doch ihr Vater legte die Hände in seinen Schoß.
„Bitte geh nach Hause und stell dir die Frage nicht. Ich will nicht, dass du dir Gedanken darüber machen musst. Ich will, dass du gehst und so stark bist, wie du es immer warst. Lass dich nicht bremsen und meide Leute, die dich auf deinem Weg aufhalten.“

Lotte begriff, dass er sich selbst meinte. „Aber du gehörst nicht zu den Leuten, die mich aufhalten! Ich will, dass du dabei bist, wenn ich meinen Weg gehe! Das machen Eltern doch, oder?“
„Ja. Aber das kann ich nicht.“ Papa sah Lotte kurz in die Augen, doch als sie den Blick erwiderte, wendete er sein Gesicht sofort von ihr ab. Da begriff Lotte, dass Papa nicht einmal den Versuch unternehmen würde, Teil ihres Lebens zu sein. So wie er sein Gesicht abgewendet hatte, so wollte er sich von ihr – wollte er sich von allem – abwenden. Alles Mitleid, das Lotte empfunden hatte verwandelte sich von der einen in die andere Sekunde in blanke Wut. Sie schlug ihre Hand so feste auf den Tisch, dass der Mann nebenan seine Karten vor Schreck fallen ließ. „Was machst du denn“, rief die Frau. „Jetzt kann ich doch sehen, was du hast!“ Papa dagegen zeigte keine Reaktion. „Was soll das jetzt, Papa? Willst du mir sagen, dass wir uns das letzte Mal sehen, oder wie? Wie stellst du dir das vor?“

Papa antwortete nicht, sondern senkte seinen Blick, was Lotte noch wütender machte. „Dein Selbstmitleid kotzt mich an“, sagte sie, wobei ihre Stimme zitterte. Tränen traten ihr in die Augen. Lotte drehte sich auf dem Absatz um und wäre beinahe in die Frau mit dem Kittel hinein gerannt, die Lottes Blumen in einer Vase vor sich her trug. Verdutzt schaute sie Lotte hinterher, als sie aus dem Raum stürmte. „Haben Sie Herrn Mann gesehen?“ fragte der Mann im Foyer, als Lotte nach draußen rannte.