Mittwoch, 4. Dezember 2013

Der gruseligste Adventskalender der Saison... #4

Achtung! Diese weihnachtlich-traurige Gruselgeschichte startet bei TÜRCHEN 1!
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TÜRCHEN 4

Die nächsten Weihnachtsfeste fanden ohne Papa statt. An einem Tag im Sommer sah Lotte ihn zum letzten Mal. In der Ent-Zugs-Klinik saß sie im Wartebereich und beobachtete einen zerzausten Mann, der Zigarettenstummel aus einem Aschenbecher fischte und die einsteckte, an denen noch genug Tabak am Filter war. Eine Ärztin (Lotte vermutete, dass es eine Ärztin war, sie trug immerhin einen weißen Kittel) hatte ihr gesagt, dass ihr Vater gleich so weit wäre. Wofür soweit? Warum kann ich nicht einfach in sein Zimmer gehen, ihm die Blumen und einen Kuss geben und mit ihm reden? Dachte Lotte. Die Stiele der Blumen lösten sich in ihren geballten Fäusten in matschige grüne Masse auf und plötzlich kam es Lotte albern vor, dass sie überhaupt Blumen mitgebracht hatte. Mama hatte angeboten, mitzukommen. Doch Lotte wollte sie nicht dabei haben. Mama hatte die Scheidung eingereicht und Lotte wusste, dass sie Papa nicht mehr sehen wollte. Sie war allein gefahren. Und jetzt saß sie hier und wartete. Sie stand auf, als die Frau mit dem weißen Kittel ins Zimmer zurück kam. Die Blumen in Lotte Händen knickten nach vorne über. Die Stiele waren in den Fäusten zu weich geworden, um aufrecht stehen bleiben zu können. Die Frau im Kittel zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. Lotte erwartete, dass sie „Ihr Vater will Sie nicht sehen“, sagen würde. Doch sie sagte: „Sie können jetzt zu Ihrem Vater.“
Lotte nickte und folgte der Frau. Kurz blieb sie stehen, als der Mann am Aschenbecher sagte: „Wenn Sie Herrn Mann sehen, sagen Sie ihm, dass ich hier bin.“ Lotte versprach unsicher: „Ja, mache ich.“ Dann verließ sie den Wartebereich.

Papa saß im Fernsehzimmer, in dem außer ihm noch ein hagerer Kerl mit einer dicklichen Frau UNO spielte. Sie beschwerte sich gerade, dass ihr Mitspieler eine ungültige Karte ausspielte („Du musst grün, eine Fünf oder einen Joker legen“), als die Frau im Kittel die Tür öffnete. Papa hatte einen Bart. Lotte kannte ihn nur mit Bart, wenn er den Nikolaus spielte. Jetzt war der Bart schwarz und stoppelig – nicht weiß und buschig. Papa hatte keine Ähnlichkeit mit dem Nikolaus. Und kaum Ähnlichkeit mit Papa. Der Mann, der auf Lotte wartete (oder zum Warten hier hin gesetzt worden war) war nicht Papa sondern Herr Joachim Mertens, Patient in der Ent-Zugs-Klinik. Er schaute auf die Tischplatte. Lotte bliebt in der Tür stehen. Die einzige Bewegung, die sie an ihrem Vater wahrnehmen konnte, war das Hemd, das leicht zitterte, wenn der dürre Körper darunter atmete.

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