Samstag, 21. Dezember 2013

Der gruseligste Adventskalender der Saison... #21

Achtung! Diese weihnachtlich-traurige Gruselgeschichte startet bei TÜRCHEN 1!
Hier geht es weiter mit:

TÜRCHEN 21

Lotte hatte sich ihre neuen Ohrringe ausgezogen und neben ihren Laptop auf das Tischchen gelegt. Während die letzte Strophe von „Oh du Fröhliche“ lief, hatte sie alle Teile des Playmobil-Puppenhauses aus der Verpackung genommen. Und während sie das Puppenhaus sorgfältig zusammengebaut hatte, hatte sich Lotte in ein Kind zurück verwandelt. Der Arm des Plattenspielers hob nach „Oh du Fröhliche“ aus der Rille ab und schwenkte auf die Halterung zurück, während die Schallplatte an Schwung verlor und auslief. Birte saß im Schneidersitz neben Lotte und schaute mit großen Kinderaugen fasziniert zu, wie aus groben Plastikteilen ein filigranes Puppenhaus wurde, das dem Altbau, in dem sie sich mit ihrer Schwester befand, gar nicht so unähnlich war.

Jetzt, wo die Musik nicht mehr spielte, war es absolut ruhig in der Wohnung. Weihnachtliche Stille. Dachte Lotte. Diesmal wollte sie sie nicht ablehnen sondern ganz in sich aufnehmen. Es war, als sei ihr das Weihnachtsfest geschenkt worden, dass ihr durch Birtes Tod geraubt worden war. Birte schien ein wenig älter zu sein als kurz vor ihrem Tod. Sie konnte sprechen. „Das ist wunderschön“, sagte sie mit ihrem schwachen Stimmchen, als Lotte das Playmobil-Haus fertig aufgebaut hatte. Lotte warf ihrer Schwester ein breites Lächeln zu. Sie fühlte sich wie in einem zuckersüßen Tagtraum – einer Drogenfantasie, die niemals aufhören sollte. Lotte hinterfragte nicht mehr, warum die Dinge geschahen. Die Glücksgefühle über die Rückkehr ihrer toten Schwester überwältigten sie so sehr, dass sie nicht mehr klar denken konnte.

Vorsichtig streckte sie die Hand nach Birte aus. Das Mädchen zuckte nicht zurück. Lotte überlegte kurz, die Hand zurückzuziehen. Wenn ich sie berühre, wird sie verschwinden. Denn sie ist nur ein Geist. Doch sie tat es nicht, sondern stellte erstaunt fest, dass sich Birtes Wange warm und weich anfühlte. „Du bist wirklich zurück!“ rief Lotte fröhlich aus und drückte das hübsch zurecht gemachte Kind im Sternenkostüm feste an sich. Sie küsste Birtes Stirn und streichelte das dichte Haar in ihrem Nacken. Birte wand sich kichernd aus der Umarmung. „Ja!“ sagte sie. „Aber jetzt lass‘ uns spielen!“

Ungeduldig riss Birte eine Plastiktüte auf und schüttete ein paar Playmobill-Figuren heraus. Da war der reiche Familienvater mit dem Zylinder und die Mutter mit dem breiten Hut. Der Sohn der Familie trug einen Matrosenanzug. Es gab auch einen Kinderwagen mit Baby.
Geschickt drückte Birte den Kinderwagen in die Hände der Mutter. Das hätte sie damals nicht so schnell hinbekommen. Aber jetzt war sie älter. Sie ist die Birte, die sie beim nächsten Weihnachtsfest gewesen wäre… Dachte. Lotte. Sie ist wunderschön.

Birte ließ die Playmobil-Frau den Kinderwagen ein Stück weit schieben. Dann drehte sie ihren Kopf zum Vater rüber. „Ich gehe mit den Kindern einkaufen!“ rief Birte mit verstellter Stimme. Dann blickte sie zu Lotte auf. „Hey, du musst den Vater spielen!“
„Oh, Entschuldigung!“ Eilig griff Lotte die Vater-Figur und sagte mit tiefer Stimme: „Tu das Schatz! Ich lese so lange die Zeitung!“ Lotte klemmte dem Vater die Plastikzeitung in die Hand und setzte ihn in den Wohnzimmersessel.
Birte nickte zufrieden, dann schob sie die Playmobil-Mutter mit dem Kinderwagen ein Stück weiter vorwärts. Lotte nahm sich den Jungen mit dem Matrosen Anzug und ließ ihn hinter der Mutter mit dem Kinderwagen her rennen. „Wartet! Wartet! Ich will auch mit zum Einkaufen!“
Die Mutter blieb stehen. Birte drehte wieder ihren Kopf. „Nein!“ ließ sie die Mutter streng sagen. Und in Birtes Stimmchen war keine Zartheit mehr zu erkennen. Sie klang eher wie ein kläffender Welpe, der bedrohlich sein will. „Du darfst nicht mitgehen. Nur ein Kind darf mit! Du bleibst bei deinem Vater!“

Lotte blickte auf und sah, dass Birte sie zornig ansah. Ihre Stirn lag in Falten, ihr Kopf war rot angelaufen, ihr Kinn zitterte. In Birtes Augen standen Tränen. Lotte streckte die Hand nach ihr aus, doch Birte wich aus. Sie wendete ihren Blick von Lotte ab. „Du bleibst bei deinem Vater“, hatte Birte gesagt. Ein Kind ist bei der Mutter, das andere beim Vater. Ein Kind ist tot, das andere lebt. „Ist Papa bei dir?“ hörte sich Lotte plötzlich fragen. „Ist er tot?“
Birte drehte sich nicht zu Lotte um, während sie nickte. „Ich spiele gerne mit dir“, sagte sie, während sie trotzig die Arme verschränkte.
„Birte, ich…“ Es fiel Lotte schwer, zu sprechen. Tränen sammelten sich wieder in ihren Augen. Papa ist tot. Genau wie Birte. Aber die Toten können zurückkommen. „Birte, ich…Ich spiele doch auch gerne mit dir.“

Birte drehte sich so ruckartig zu Lotte herum, dass sie erschreckt vor ihrer Schwester zurückwich. Der blanke Zorn flackerte in Birtes Augen, als sie mit seltsam hysterischer Stimme kreischte: „Warum hast du mich dann umgebracht?“

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen