Freitag, 6. Dezember 2013

Der gruseligste Adventskalender der Saison... #6

Achtung! Diese weihnachtlich-traurige Gruselgeschichte startet bei TÜRCHEN 1!
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TÜRCHEN 6


Lotte ließ heißes Wasser in den Topf laufen, während sie aus dem Küchenfenster schaute. Obwohl es noch früh am Abend war, war es draußen bereits dunkel geworden. Dünne Fäden, die weder als Regen noch als Schnee zu identifizieren waren, zogen in gleichmäßigen Bahnen durch das Licht der Straßenlaternen. Im Haus gegenüber waren die meisten Lichter erloschen. Ein sicheres Zeichen, dass in den Wohnungen Studenten lebten, die heute zum Weihnachtsbesuch nach Hause gefahren waren, um das erste vernünftige Essen seit Wochen (oder Monaten) zu bekommen. Nur ein Fenster wurde von einem bunten blinkenden Weihnachtsstern erhellt. Dass alle anderen Fenster ungeschmückt waren, deutete ebenfalls auf Studenten hin. Mit Anfang 20 legt man keinen Wert auf Weihnachtsschmuck in der eigenen Wohnung, besteht aber auf welchen im Elternhaus. Weihnachtsschmuck hängt nur da, wo man sich zu Hause fühlt. Dachte Lotte. Sie drehte das Wasser ab und stellte den Topf auf den Herd. Mit Anfang 20 hat man das Elternhaus verlassen, lebt aber noch in einer Übergangsstation, die nicht heimelig sein soll. Nur bei mir ist es genau anders herum.

Spätestens seit Papa plötzlich spurlos verschwunden war, hatte sich Lotte zu Hause nicht mehr heimisch gefühlt. Nur wenige Woche nach ihrem Besuch in der Klinik hatte Mama einen Anruf bekommen.
„Was hat er zu dir gesagt, als du bei ihm warst?“ fragte Mama, nachdem sie Lotte erklärt hatte, dass Papa in der Nacht aus der Klink getürmt war. Er war vom Balkon aus dem ersten Stock gesprungen. Die ungleichmäßigen Fußspuren im Kies verrieten, dass er sich dabei den Knöchel verstaucht hatte.
„Nichts“, antwortete Lotte. „Nichts konkretes.“
„Was soll das heißen?“ Es war offensichtlich, dass Mama glaubte, Lotte würde ihr etwas verheimlichen. Sie saß ihr am Küchentisch gegenüber wie bei einem Kreuzverhör.
„Er hat höchstens Andeutungen gemacht.“
„Was hat er angedeutet?“
„Dass wir uns das letzte Mal sehen…“
„Und das sagst du mir jetzt erst?“ In Mamas Stimme schwang ein Vorwurf mit, der in Lotte eine ähnliche Wut wie vor wenigen Wochen in der Ent-Zugs-Klinik auslöste: Du bist Schuld, dass sich unsere Familie auflöst.
„Du hast doch gesagt, dass du nichts mehr von ihm wissen willst! Warum willst du jetzt so dringend alles wissen!“ schrie Lotte, sprang auf und riss dabei ihren Küchenstuhl um. Polternd fiel er mit der Lehne voran auf die Fliesen. Auf Mamas Stirn bildete sich eine Wutfalte. Sie sprang ebenfalls auf und stieß ihren Stuhl um – ganz offensichtlich äffte sie Lotte nach, als wäre sie ihr älteres aber ebenso wütendes Spiegelbild. Sie äffte sie nach, um zu demonstrieren, dass sie Lottes Wut nicht im entferntesten ernst nehmen wollte. Sie äffte Lotte nach, weil sie keine Argumente hatte. Sie konnte den Vorwurf Du bist Schuld, dass sich unsere Familie auflöst subtil vermitteln, ihn aber nicht begründen. Und darum musste sie einen Machtkampf spielen. So jedenfalls interpretierte Lotte den Streit im Nachhinein.

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