Donnerstag, 23. Juni 2011

Öffne dich


Als Messdiener habe ich früher die Fronleichnamsprozession gerne gemocht. Denn wenn ich Glück hatte, durfte ich das Weihrauchfässchen schwenken oder befüllen. Richtig guten Weihrauch gab es nur im perfekten Zusammenspiel. Wurde das Fässchen falsch geschwenkt (nämlich zu kraftlos), dann dampfte der Rauch nur recht unspektakulär in die Höhe und verflog schnell. Hat man das Fässchen allerdings weit pendeln lassen und so von sich gestoßen, dass die Ketten, an denen es baumelte, rasselten, dann spie es wunderschöne dicke Wolken aus, die sich über die Gemeinde legten. Vorausgesetzt, das Fässchen war richtig befüllt. Nämlich mit so viel Weihrauch, wie nur möglich! Ich hielt mich damals für einen guten Qualmer. Jedenfalls war ich so gut, dass mir nach der Hälfte der Prozession immer sehr schlecht war. Beim Weihrauchschwenken ist es wie bei einer Achterbahn oder einem Horrorfilm: Erst, wenn man das Gefühl hat, jeden Moment in einen Eimer kotzen zu müssen, macht es richtig Spaß.

Die Gebete während der Prozession haben mich naturgemäß wenig interessiert, die Musik mochte ich gerne, schließlich gibt sie den Ritualen erst den richtigen "Drive", so wie es gute Filmmusik schafft. Wenn ich sonst als Messdiener in der Kirche war (und ich war eigentlich immer nur als Messdiener in der Kirche), saß ich im Altarraum, wo man zwar die Gemeinde ein wenig, den Priester aber fast gar nicht verstehen konnte, da er mit dem Rücken zu einem stand. Als Messdiener bekam ich immer sehr wenig von den Predigten und den Gebeten mit. Aber sehr viel von den Ritualen – denn immerhin durfte ich bei denen ja aktiv mitmachen. Wenn ich an Kirche denke, dann denke ich also zuerst immer an die Rituale. An die Faszination des Sakralen (und des Makaberen. Denn wo außer in der Kirche wird noch ungestraft Blut getrunken, während man unter der riesigen Skulptur eines gemarterten Leichnams steht).

Die Rituale und die bildlichen Darstellungen haben mich überhaupt erst zu den Bibel-Geschichten geführt, die ich gerne gelesen habe (selbstverständlich in einer dramatisieren Fassung für Kinder). Umgekehrt haben die Rituale die Geschichten in der Messe für mich lebendig gemacht. Und so wundert es mich im Nachhinein nicht, dass ich als Jugendlicher schnell eine Faszination für Horrorgeschichten entwickelt habe, die – allen voran im großartigen "Der Exorzist" – die faszinierende Kraft der Rituale auf die Spitze treiben.


Ich würde mich nicht als fromm bezeichnen. Dafür gehe ich zu selten in die Kirche und dafür fällt es mir zu schwer, den katholischen Glauben als unumstößliche Wahrheit zu begreifen. Davon abgesehen kann ich mich natürlich mit vielen politischen Positionen der Kirche nicht identifizieren. Allerdings halte ich die Kirche für sehr wichtig. Sie verkörpert die kulturellen und moralischen Werte unserer Gesellschaft, gibt Zeugnis über unsere Geschichte ab und gibt uns Rituale, die uns helfen, Ordnung und Identität in unser Leben zu bringen.

Ich glaube, die kirchlichen Rituale und vor allem die Geschichten sind untrennbar mit unserer Gesellschaft und Identität verknüpft. Warum sonst halten es viele Brautpaare für wichtig, in der Kirche zu heiraten, obwohl sie nicht gläubig sind. Warum sagt ein Freund von mir, der aus der Kirche ausgetreten ist, "wenn das vorbei ist, schlage ich drei Kreuze"? Sind die Romane von Dan Brown nicht letztlich auch Bestseller geworden, weil sie die Leser mit Verschwörungen und Geschichten rund um die kirchlichen Riten faszinieren? Und würde das kulturelle Leben in Köln nicht komplett untergehen, wenn der Dom plötzlich gesprengt werden würde (immerhin behaupten nicht wenige Leute, den Dom zu lieben und sich zu Hause zu fühlen, wenn sie ihn am Horizont erblicken – selbst wenn sie mit der Kirche nichts am Hut haben). Ich könnte zahllose weitere Beispiele aufzählen, aber mein Punkt ist klar. Das, was die Kirche verkörpert (die Geschichten, die Rituale) sind unersetzbare und fundamentale Pfeiler unserer Kultur und unseres Zusammenlebens. Vielleicht noch ein letztes Beispiel: Fast jeder, der in einem christlichen Land sozialisiert wurde, schickt – egal ob gläubig oder nicht – Stoßgebete zum Himmel, wenn er in einer verzweifelten Situation steckt. Sei es Krebs, ein totes Kind oder einfach nur die Frustration, die aufkommt, wenn man nach einem verlorenen Haustürschlüssel sucht.

Weil Kirche und Gesellschaft so untrennbar zusammenhängen, sehe ich es als Aufgabe der Institution Kirche an, auf Veränderungen in der Gesellschaft einzugehen und sich mit ihr gemeinsam zu entwickeln. Ich mache mir diese ganzen (hier sehr assoziativ zusammengefassten) Gedanken, weil ich in den letzten Tagen viel über die Diskussion rund um das neue Buch von Spiegel-Autor Matthias Matussek und auch die ersten Kapitel des Buches gelesen habe. Matussek fordert ein, dass sich die Menschen wieder mehr den Lehren, Botschaften und Ritualen der Kirche öffnen. Er relativiert die Brisanz rund um die Missbrauchs-Skandale in der Kirche, lobt alles, was der Papst sagt und fordert in seinem Buch, dass man wieder verstärkt die eigene Sünde sehen und Buße tun soll. Unter seinen locker und frech geschriebenen Texten, die einige für ein feuriges Glaubensbekenntnis halten, verstecken sich erzkonservative Botschaften, von denen mancher gehofft hat, dass sich die Gesellschaft längst von ihnen emanzipiert hat und die Kirche es bald auch tun würde. Hinzu kommt eine "Ich bin erzkatholisch und darum saumäßig cool"-Haltung, mit der sich Matussek gerne über die Protestanten lustig macht. Im Facebook-Chat habe ich Matussek gefragt, ob er für die Ökumene sei. Er antwortete mir: "Ja, aber nicht zum Preis der Selbstaufgabe."

Das ist bezeichnend für Matusseks Thesen. In den Texten und Interviews, die ich von ihm zum Thema gelesen habe, blockt er alle Kritik an der Kirche ab und fordert, dass man sich zur Kirche hin öffnet, ohne zu verlangen, dass die Kirche das gleiche in Bezug auf die Gesellschaft tut. Dafür bekommt er Applaus von einigen "Richtig so"-Schreiern, die auch glauben, wir müssten Religionsfantatiker werden, weil wir sonst keine Chance gegen die Fanatiker aus anderen Religionen hätten. (Allerdings bekommt Matussek auch Lob von Leuten, die klüger sein müssten.)

Mit der Sünde, dem Teufel und der Verdammnis im Höllenfeuer zu drohen, war lange die Waffe der Kirche. Es ist der gleiche Unsinn, eine Rückkehr zu dieser Form des Glaubens zu fordern, wie zu behaupten, unsere Gesellschaft würde sich in einem rasanteren Sündenfall befinden als jemals zuvor, wie ja gerne von "Jesus Rettet"-Schreihälsen behauptet wird.

Ich bin sicher, dass sich wieder mehr Menschen der Kirche öffnen würden, wenn sie den Eindruck hätten, dass die Kirche die Gesellschaft, in der wir leben, ernst nimmt. Das sie sich wirklich mit den Problemen auseinandersetzt und Lösungen entwickelt, statt zu fordern, dass sich alle wieder auf die Regeln besinnen, die die Kirche vorgibt. Wenn ich in die Kirche gehe, will ich neben den Ritualen kluge und moderne Gedanken hören, statt trotziges Gerede, wie es in der diesjährigen Fronleichnam-Predigt wieder vom Kölner Kardinal Meisner kam. Die Botschaft seiner Predigt war, dass die Kirche diejenigen, die die frohe Botschaft vom Leib Jesu Christi nicht annehmen, gerne weg bleiben dürfen. Nötig hätte die Kirche nur diejenigen, die bereit sind, zu glauben.

Ich weiß nicht, warum Meisner den vielen Gläubigen, die zum Roncalli-Platz gekommen waren, nichts Produktiveres zu sagen hatte. Wie gesagt, sie waren ja gekommen. Und das einzige, was sie in der Predigt zu hören bekommen ist, dass sie gerne gehen dürfen, wenn sie unsicher sind? Mit solchen Reden reagieren Kirchenleute auf den Mitgliederschwund ähnlich wie die Filmindustrie auf Raubkopierer. Diejenigen, die einen Film kaufen, bekommen auf der DVD einen Clip vorgeführt, in denen ihnen gedroht wird, im Knast vergewaltigt zu werden, wenn sie nicht das Original kaufen. Dabei haben sie ja das Original gekauft! (Ein anderes Beispiel sind Zeitungsverleger, die sagen, dass man nur Qualitätsjournalismus bekommt, wenn man ihre Blätter kauft. Das Internet hätte so etwas nicht anzubieten.)

Dieses "Wir gegen alle anderen"-Prinzip kann nicht funktionieren, wenn man eine ernsthafte Rolle in der Gesellschaft spielen will. Kirche macht für mich nur Sinn, wenn ich das Gefühl habe, in einer Messe neben gemeinsamen Ritualen auf gesellschaftliche Diskussionen zu stoßen. Sie macht auch nur Sinn, wenn sie die Ökumene fördert ohne darüber nachzudenken, ob man sich dabei selbst verliert. Unsere Gesellschaft wird vielfältiger. Der Islam etwa spielt eine deutlich wichtigere Rolle in unserem Land als jemals zuvor. Und die Moscheen sollen bitte nicht als Konkurrenz zu den Kirchen aufgefasst werden. Sie sind Ausdruck von Strömungen, Ritualen und Sichtweisen, die zu der Gesellschaft, in der wir heute leben, dazugehören. Daher müssen sich die Religionen doch viel stärker miteinander beschäftigen, als sich nur um sich selbst zu drehen. Nur wenn es in der Kirche einen offenen Diskurs mit den Problemen unser Welt, mit den anderen Glaubensrichtungen und mit den Menschen gibt, füllt die Kirche ihre gesellschaftliche Rolle wirklich aus. Dann werden sich auch mehr Leute mit ihr identifizieren können – und ein schönes Ritual wäre das faszinierende i-Tüpfelchen.

PS. Ich möchte diesem spontan geschriebenen – und sicher auch nicht ganz zu Ende gedachten – Text noch dieses Bild hinzufügen, das ich während der Fronleichnams-Messe auf dem Roncalli-Platz gemacht habe:


Hier wurde ein QR-Code auf einen Kirchenbanner gestickt. Ich finde, das Internet-Symbol macht sich ziemlich gut als moderne Kirchenkunst. Wenn man den Code mit dem Handy fotografiert und entschlüsselt, erscheinen die Worte: ÖFFNE DICH.

Eigentlich eine wunderbare Überschrift für diesen Post.

---NACHTRAG---
Mysteriös: Kaum blogge ich etwas über die Kirche, taucht Besucher 666 hier auf...

7 Kommentare:

  1. das ist ja toll mit dem qr-code!! schön geschrieben, auch wenn ich die diskussion nicht verfolge (ähem...)
    ...und so ein schöner header...!

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  2. Hi,

    sehr schön geschrieben, anteilsam, nicht von außen motzend, sondern konstruktiv. thx.

    Und das mit dem QR-Code hab ich nicht zur Gänze verstanden, klingt aber lustig ^^

    Gruß

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  3. QR-Codes sind quadratische Muster, die man mit einer bestimmten Handy-App fotografieren kann und die dann automatisch in ein Dokument, ein Bild, einen Link oder ähnliches umgewandelt werden. http://de.wikipedia.org/wiki/QR-Code Danke fürs Lob!

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  4. tja das leidige Thema Kirche...und leider tut sich zu wenig! Schade, denn die Rituale und uralten Traditionen der Kirche haben mich als Kind auch immer fasziniert und in Ihren Bann gezogen. Leider gelingt es der Kirche nicht, das Mystische und Spirituelle des Glaubens in unsere Zeit und in die Gesellschaft zu integrieren . Ich bezweifle mittlerweile auch, dass es Ihr Anliegen ist, bzw. ihr gelingen wird. Dann ganz zeitgemäß: ein wenig christliche Nächstenliebe und Moral, eine Prise buddhistische Gelassenheit und Demut, eine Scheibe hinduistischen Fatalismus und einen islamischen Schuß "Auge um Auge"! Fertig ist der Glaubens-Eintopf, schmeckt in allen Lebenslagen, man muss sich halt nur das richtige rauspicken! ;) Der QR Code anders interpretiert! (die Idee mit dem QR Code auf der Fahne ist auf alle Fälle klasse!) Nicole

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  5. Hmm, ein "Glaubens-Eintopf" kann aber auch nicht das richtige sein. Ich finde zwar, dass sich die einzelnen Religionen gegenseitig befruchten sollten, aber nicht zu einer Einheit verschmelzen sollten.
    Ich glaube aber auch, dass die Kirche sich keine ernsthafte Mühe gibt, das Spirituelle in der Gesellschaft zu verankern. Sonst würden sie (leichte) Veränderungen und Erweiterungen im Ritual zulassen. Die Rituale müssen sich schließlich auch mit der Gesellschaft mitentwickeln - haben sie ja eigentlich schon immer getan, denn Petrus hat garantiert keinen katholischen Gottesdienst abgehalten, wie wir ihn heute kennen.

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  6. Ja, da hast Du recht. Es gab mal einen guten Spiegel-Bericht/Doku über die christlichen Riten und Glaubensvorstellungen in den ersten Jahrhunderten. Die waren eben sehr an die Bedürfnisse, Hoffnungen und Ängste der Menschen angelehnt, bzw. angepasst.
    Falls es Dich interessiert, hier der Titel: In den Katakomben von Rom - Auf den Spuren der frühen Christen (Spiegel TV Nr. 12)
    Fand ich sehr interessant und relativiert so einiges...N

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  7. Cool! Danke für den Tipp. Jetzt muss ich nur noch sehen, ob ich die Doku in die Finger bekomme. Klingt auf jeden Fall interessant! LGC

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