Freitag, 2. Juli 2010

Am Anfang war das Blog


Ich mag an der Welt-Gruppe, dass dort so gerne experimentiert wird. Das neueste Experiment betrifft die Welt Kompakt: Die gestrige Ausgabe wurde komplett von Bloggern erstellt.

Ihre Mission: Die Zeitung neu erfinden. Anscheinend haben sie neu erfinden allerdings so aufgefasst, dass sie zurück zu den Anfängen des Schreibens gegangen sind - zum Papyrus. Scroll-Edition heißt die Welt Kompakt-Ausgabe, und beim Lesen glaubt man tatsächlich, eine Schriftrolle zu studieren. Unhandlich liegt die Zeitung in der Hand, so als ob man einen Wandkalender lesen muss.

Ressorts gibt es nicht, was ich gut finde, da ich die sture Einteilung in Mantelteile für überholt halte und es toll fände, wenn mehr Zeitungen den Mut hätten, verschiedene Themengebiete mehr miteinander zu mischen. In der Papyrus-Welt Kompakt gibt es allerdings gar keine Ordnung, so dass der Leser orientierungslos mit den Augen von Text zu Text rollt ohne zu wissen, wohin er eigentlich geführt wird.
Das wäre halb so schlimm, wenn man von den Texten überrascht werden würde und gespannt wäre, was man als nächstes entdecken wird. Doch der Großteil der Texte sind erschreckenderweise nicht lesenswert. Die Autoren machen drei Kapitalfehler.

1. Die Texte handeln so gut wie nie von Personen, so dass keine "Geschichten" erzählt werden und kaum eine emotionale Bindung zum Leser hergestellt wird. Meistens handelt es sich um Gedankengänge der Blogger, die sich fast ausschließlich um das Internet, soziale Netzwerke oder Medienthemen drehen.
2. Auf Recherchen scheint weitgehend verzichtet worden zu sein. Es gibt keine wirklichen Nachrichten in der gesamten Zeitung, außer in einer lieblos gestalteten Spalte am rechten Rand, in der Meldungen zusammengestellt wurden. Absurderweise verstecken sich in der Spalte ab und an Kommentare, die man nur zufällig entdeckt, wenn der Blick abschweift. Mir hat sich außerdem nicht erschlossen, warum Kommentare in der Randspalte überhaupt nötig sind, wo doch die Haupttexte fast ausschließlich Kommentare sind - reine Meinungstexte, die ohne Recherche auskommen und oft keinen einen aktuellen Bezug haben. Das Thema des Tages ist da eine Ausnahme. Natürlich geht es um die Wahl von Wulff zum Bundespräsidenten. Doch genau hier erwarte ich einen Tag nach der Wahl eine gut recherchierte Hintergrundgeschichte. Stattdessen wird das Thema mit einer Ansammlung von Tweets abgehandelt, die den gleichen Mehrwert hat, wie ein Live-Ticker, bei dem jede Aktualisierung erst 24 Stunden zu spät auf dem Bildschirm erscheinen würde.
3. Beim Layout wird jede Gestaltungsreform ignoriert, die es in den letzten Jahren gegeben hat. Nicht nur, dass es gar keine Freisteller gibt. Jede Seite ist exakt gleich gelayoutet, was bedeutet, dass links der Text und rechts das Bild steht. Als wären Zeitungsspalten nur zum Spaß entwickelt worden, läuft der Text oft über Zeilen, die 20 Zentimeter oder länger sind. Das führt dazu, dass man ständig in der Zeile verrutscht. Außerdem wirken die Seiten sehr bleilastig - wie Zeitungen aus den 50er-Jahre, als sich um Layout noch gar keine Gedanken gemacht wurde.

Da fast jeder Text vom Internet handelt oder Bezug darauf nimmt und fast jeder Blogger angibt, sich in erster Linie für Medienthemen zu interessieren, bekommt man den Eindruck, dass sich beim Schreiben keine Gedanken über den Leser sondern sondern nur um die eigenen Interessen gemacht wurde. (Und ärgerlicherweise bestätigen die Blogger damit die Klischees, die gestandene Journalisten gerne über sie verbreiten.)

Hier wurde experimentiert, nur um zu experimentieren. Etwas neues wurde nicht erfunden. Genauso gut könnte ich sagen, dass ich mal ein Blogger-Experiment mache und einfach alles rückwärts schreibe. Das ist irgendwie neu - aber völlig unpraktisch.

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---Ergänzung---
Ob meine Kritik berechtigt ist, kann jetzt hier überprüft werden.

2 Kommentare:

  1. Trifft genau meine Meinung ... Aber ich verstehe eh so ein paar Sachen gerade mit den Bloggern nicht. Warum wird das (jetzt ist der Hype ja schon vorbei) trotzdem so gehyped ?

    "Teh future of teh medien usw ... "

    Wenn man sich mal anschaut was ein Journalist so leistet (und das ist häufig durchaus noch ausbaufähig) und überlegt, dass der dafür durch eine lange Ausbildung gegangen ist, find ich es einfach komisch fast schon anmaßend "die verrückte Katzenfrau von nebenan die auch ein Blog hat" jetzt als ernstzunehmende Journalistin zu Hypen ...

    Ich als Systemingenieur würd doch auch nicht auf die Idee kommen, mich als Arzt zu verdingen, frei nach dem Motto, so schwer kann das doch nicht sein !

    Und gerade bei Modeblogs find ich das noch am allerschlimmsten ...

    Den Artikel (der in selbiger Zeitung erschienen
    ist) find ich da schon noch witzig zu lesen :

    http://dandydiary.de/2010/07/dandy-diary-gegen-die-welt/

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  2. Der Artikel http://dandydiary.de/2010/07/dandy-diary-gegen-die-welt/ erschien aber leier nur deutlich entschärft. Geärgert hat mich auch, dass der Beitrag von Jeff Jarvis einfach aus dessen Blog buzzmachine.com rauskopiert wr.

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